Symposium der Vereinigung der Waldorfkindergärten. Foto: Silke Kirch
Perlen und Zuckerwatte? 50 Jahre Vereinigung der Waldorfkindergärten!
Mit einem Festakt im Anthroposophischen Zentrum in Kassel feierte die Vereinigung der Waldorfkindergärten ihr 50-jähriges Bestehen.
Was brauchen die Kinder für die Zukunft? Was brauchen sie heute von den ErzieherInnen – und wie können diese leisten, was zu tun ist? Fragen, die im Zentrum, der Veranstaltung standen. Für einen lebendigen Austausch sorgten die FestrednerInnen: Philipp Reubke (IAWESCE Frankreich), der für den erkrankten Henning Köhler einsprang, die Hamburger Ärztin Barbara Treß und Marcus Schneider, Leiter der Fachschule Anthroposophische Pädagogik in Dornach – für die Moderation Sabine Cebulla-Holzki, Leiterin des Waldorfkindergartenseminars Hannover, sowie Mira Drews am Klavier, die virtuos und mit eigenen Kompositionen weitaus mehr als ein musikalisches Rahmenprogramm beisteuerte.
Wolfgang Saßmannshausen erinnerte einleitend an die Gründungsinitiative von Helmut von Kügelgen und Klara Hattermann: Anders als andere anthroposophische Initiativen wurde die Vereinigung der Waldorfkindergärten nicht dem Impuls eines Einzelnen folgend im Dialog mit Rudolf Steiner – wie etwa dem Emil Molts für die Waldorfschule – gegründet. Entsprechend gibt es von Steiners Seite kaum Hinweise auf eine frühkindliche Pädagogik. Was das kleine Kind braucht, das scheint eine Frage zu sein, die jede Gegenwart neu stellen und beantworten muss – gemeinschaftlich, auf Grundlage der lebendigen Vielfalt der Beziehungen, in denen die Kinder leben.
An erster Stelle also: das Suchen, die Fragen. Philipp Reubke zeichnete die Grundgesten des Miteinanders entlang des pädagogischen Alltags nach: Verbindung und Grenze, Ordnung und Chaos, Zentrum und Peripherie. Barbara Treß griff sie aus medizinisch-menschenkundlicher Sicht auf: Individuum und Gemeinschaft, Autonomie und Zugehörigkeit, Gewordenes und Werdendes – es ist ein Spannungs- und Konfliktfeld, in dem sich Leben individuell entfaltet. Vor aller Erziehung: die Beziehung. Marcus Schneider gab Einblicke in seine eigene Kindheit, in der die Eltern wenig Zeit hatten und sich dennoch viel entwickelte. Im Gefüge der Welt müssen Forderung und Förderung nicht immer pädagogische Intentionen sein: Das Kind, das sich im guten Kontakt mit seiner Umwelt fühlt, Möglichkeiten findet und ergreifen kann, entwickelt seine Ressourcen womöglich auch ohne Anleitung. Wie die Auster aus dem Sandkorn die Perle – so ein Bild von Barbara Treß.
So war eines der Schlüsselwörter für das Gelingen von Entwicklung an diesem Festtag: Resonanz. Das sei, so Barbara Treß, Grundlage, um für Kinder „den Zukunftskorridor“ zu eröffnen – gerade angesichts des rasanten Wandels der Lebensbedingungen in der digitalen Gesellschaft. Das gelte, so Philipp Reubke, auch für die weltweite Gemeinschaft der Waldorfkindergärten: Resonanz als Grundvoraussetzung für den Balanceakt des Gelingens von gemeinschaftlicher wie individueller Lebensgestaltung – ein Spielraum, in dem Verbundenheit und Beweglichkeit zusammengehen, Schlüssel für die Zukunftsfragen. Schlüssel auch für die Frage nach den eigenen Ressourcen: Was in der Kindheit angelegt wurde, so Marcus Schneider, will gepflegt sein, dann vermehre es sich wie Zuckerwatte. Das zu erkennen, mit diesen aus der Kindheit erwachsenen inneren Potenzialen in Resonanz zu gehen, das sei die wertvollste Ressource im Alltag mit Kindern.
Das kleine Kind stand womöglich aus gutem Grund nicht im Zentrum der pädagogischen Überlegungen Steiners. Es ist ohne Gemeinschaft ebenso wenig zu denken wie die Gemeinschaft ohne ihre Kinder: Die Zukunft ist immer eine Frage nach dem Zusammenhang des Ganzen. – Mit Heiterkeit, Kritik und Mahnungen versuchte die Festgemeinschaft das hundertjährige Jubiläum im Jahr 2069 auszumalen.
Silke Kirch
Anlässlich des Beschlusses des Bundestages zum Masernschutzgesetz vom 14.11.2019 hat die Vereinigung der Waldorfkindergärten Handreichungen für die Betreuenden in ihren Einrichtungen herausgegeben. Das mehrseitige Papier enthält grundlegende Informationen über das Gesetz und seine Auswirkungen auf Kinder und Mitarbeitende, über Prüfpflichten, Konsequenzen für Betreuungsverträge und Arbeitsverträge, Fragen der Kostenübernahmen u.a.m. Die Handreichungen sind hier abrufbar.
Almuth Strehlow
Das freie Spiel ist für Kinder das Tor zur Welt: Es ist Grundlage der schöpferischen Kreativität, der freien Selbstentwicklung und Autonomie in Verbundenheit. Weltweit werden die freien Spielräume in der Kindheit – und auch in den späteren Ausbildungsgängen – mehr und mehr beschnitten. Zunehmend entwickeln bereits Kinder stressbedingte Zivilisationskrankheiten wie Herzerkrankungen. Entlang der Entwicklungsstufen des kindlichen Spiels verdeutlicht Almuth Strehlow den immensen Wert des Spiels für Salutogenese, Demokratiefähigkeit und ein zufriedenes Leben: Spielen bietet die Voraussetzungen für das zuweilen schwierige Unterfangen, sich in der Welt zu beheimaten und sie schöpferisch mitzugestalten – eine menschliche Gabe, welche auch für Erwachsene sinnstiftend und heilsam sein kann.
Zu bestellen beim Büchershop der Vereinigung der Waldorfkindergärten für 9 Euro zzgl. Versand.
Wie gelingt der Übergang vom Kindergarten in die Schule? Was sind die Herausforderungen in der frühen und mittleren Kindheit oder Pubertät? Wie können Eltern, Pädagogen und Kinder mit aktuellen Themen wie Medienmündigkeit, Kreativität, Interkulturalität oder religiöser Erziehung umgehen? Der im Beltz Juventa Verlag erschienene Sammelband Kinder, Kinder! Perspektiven auf kindliche Entwicklung, Förderung und pädagogische Haltung, herausgegeben von Stefanie Greubel und Jost Schieren, bietet eine vielseitige Diskussionsgrundlage rund um das Thema Kindheit. Stefanie Greubel ist Professorin für Kindheitspädagogik an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter bei Bonn. Jost Schieren ist Professor für Schulpädagogik mit dem Schwerpunkt Waldorfpädagogik an der Alanus Hochschule.
„Es geht um die Auseinandersetzung mit lebensnahen Fragen von Familien, aber auch Pädagoginnen und Pädagogen, die sich in ihrem Berufsalltag den Herausforderungen im Umgang mit Kindern und Jugendlichen und ihren je spezifischen Bedürfnissen stellen“, schreiben Greubel und Schieren in ihrer Einleitung. Elf Professorinnen und Professoren befassen sich in dem Band mit zentralen pädagogischen Fragestellungen und geben konkrete Handlungsempfehlungen für die Praxis. Es entsteht ein Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis, der auch die Waldorfpädagogik einbezieht und beispielsweise den Zusammenhang von interkultureller Pädagogik und Waldorfpädagogik beschreibt. „Ein besonderes Merkmal der Arbeit des Fachbereiches Bildungswissenschaft an der Alanus Hochschule ist die dialogische und diskursorientierte Verbindung von Allgemeiner Erziehungswissenschaft und Waldorfpädagogik“, so die Alanus-Professoren.
Die ersten beiden Beiträge zeigen, wie viel Eigenständigkeit einem Kind erlaubt und zugemutet werden kann. „In weiteren Beiträgen werden spezifische Aspekte in der Entwicklungsspanne von der frühen Kindheit über die mittlere Kindheit bis zum Jugendalter betrachtet und deren pädagogische Konsequenzen beleuchtet“, schreiben Greubel und Schieren. Die sozial-emotionale Entwicklungsphase in der frühen Kindheit wird von Maximilian Buchka beschrieben; wie wichtig unsere Sprache für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes ist, erklärt Ulrich Maiwald. Axel Föller-Mancini wirft einen Blick auf die Entwicklung der Acht- bis Elfjährigen aus waldorfpädagogischer Perspektive. Auch werden die physiologischen, psychologischen und gesellschaftlichen Aspekte in der Pubertät beleuchtet. Die Phase des Jugendalters analysiert Schieren mit einem Fokus auf die Entwicklungsgedanken der Waldorfpädagogik.
„Thematisiert wird die Förderung individueller Potenziale ebenso wie die allgemeine Grundhaltung gegenüber Digitalisierung, Religion, Kultur und Bildung“, so die Herausgeber. Die Medienpädagogin Paula Bleckmann schreibt über Medienmündigkeit und gibt Empfehlungen für den Umgang mit Medien. Die Publikation bietet „ein breites und perspektivreiches Anregungspotenzial zur gedanklichen Reflexion über Kindheit und Jugend in der Gegenwart“, resümieren Greubel und Schieren. Tatjana Fuchs/Alanus HochschulePädagogische Reformvorschläge meinen immer die Gesellschaft als Ganzes: Vom Kinde aus sollte sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts erneuert werden. Die pädagogischen Ideen Rudolf Steiners fanden einen ihrer engagiertesten Unterstützer in Emil Molt, dem Direktor der Waldorf-Astoria Zigarettenfabrik in Stuttgart, die den Waldorfschulen ihren Namen gab. Seine Motivation bezog Molt aus dem tiefen Unbehagen an den gesellschaftlichen Entwicklungen seiner Zeit, und er hielt sie auch in Zeiten des wirtschaftlichen Niedergangs und der nationalsozialistischen Machtergreifung aufrecht. Auf der Grundlage bislang unveröffentlichter Quellen gibt der Autor Dietrich Esterl Kunde vom Leben und Wirken des Gründervaters der Waldorfschulbewegung.
Dietrich Esterl: Emil Molt 1876 – 1936. Tun, was gefordert ist. 1. Auflage 2012, 344 Seiten, gebunden
€ 10,00, ISBN 978-3-86783-026-3.
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Erziehung ist Begegnung
Wolfgang Saßmannshausen
Wolfgang Saßmannshausen
Erziehung ist Begegnung - Menschen zwischen Werden und Sein
1. Auflage 2019, 96 Seiten, Klappenbroschur
Herausgegeben von der Vereinigung der Waldorfkindergärten
€ 12,00
Jetzt auch als E-Book für € 9,99.
ISBN 978-3-95779-099-6
Erhältlich bei der Bücherstube der Vereinigung der Waldorfkindergärten und im Buchhandel!
Der folgende Auszug gibt das dritte Kapitel des Buches mit geringfügigen Kürzungen wieder.
Wer ist „Ich“ in der erzieherischen Begegnung?
Wenn der Kern der Bildung und der Erziehung die Begegnung zwischen Kind und Erwachsenem ist, ergibt sich selbstverständlich die Frage, wer derjenige im Erwachsenen ist, der für diese Aufgaben „zuständig“ ist. Wenn man Menschen fragt, welche Lehrer in besonderer Weise und warum Eindruck auf sie in ihrer Kindheit gemacht haben, erhält man in aller Regel keine Menschen genannt, die sich wegen inhaltlicher – fachlicher oder methodischer – Fertigkeiten in die Erinnerung des ehemaligen Kindes eingegraben haben, sondern es sind fast immer charakterliche Qualitäten des individuellen Menschen, die nachhaltig Eindruck auf das Kind gemacht haben. Der Lehrer, der unerwartet „fünfe gerade sein lassen“ konnte, der Humor entwickeln konnte, der dem Leben immer wieder Freude und Heiterkeit abringen konnte, der tolerant und gelassen bestimmten ideellen Anschauungen verbindlich zugetan war, der sich um Gerechtigkeit bemühte, der sich selbstkritisch entschuldigen konnte. Die Liste der häufig genannten Qualitäten im Rückblick auf die Begegnung mit den eigenen Erziehern lässt sich vielfältig verlängern oder differenzieren. Was aber die genannten Begründungen für einen wertschätzenden Rückblick auf die eigenen Erzieher oder Lehrer sofort deutlich machen, ist die Tatsache, dass es sich um Qualitäten handelt, Qualitäten, die dem Ich des jeweiligen Menschen entsprechen, durch die der Mensch im Leben seine eigene Signatur schreibt. Dass es hierbei in aller Regel um nachhaltige Eindrücke geht, kann man daran erkennen, dass je älter der Mensch wird, desto stärker diese Eigenschaften gegenüber den professionellen Qualitäten hervortreten.
Die sichere Seite unseres Lebens
Nennen wir diese Seite des Menschen sein Ich und versuchen sie darzustellen. So möge die Situation eines Vorstellungsgespräches im Rahmen einer Bewerbung als Rahmen der Anschaulichkeit dienen.
Wenn jemand sich (das ist quasi die Kurzfassung von „sein Ich“) vorstellt, muss dieser Mensch sich seiner Vorstellung bedienen. Wie das Wort verrät, holt derjenige, der sich etwas vorstellt, dieses hervor aus seinem Innern, aus der Erinnerung, und stellt es sich und gegebenenfalls auch anderen vor das seelische Auge. Vorstellung und Erinnerung gehören untrennbar zueinander. Vorstellung bezieht sich somit immer auf etwas Vergangenes, das aus der Erinnerung hervorgeholt werden kann. In diesem Sinne stellt der Mensch sich sein Leben vor und lässt gegebenenfalls andere daran teilhaben. Diese Erinnerungsvorstellung des eigenen Lebens kann, wenn man sich darum bemüht, sehr exakt sein, denn es ist die Wiederherbeiholung des bereits Erlebten, Erfahrenen, Gelebten. Die Vorstellung ist somit das Instrument, mit dem der Mensch sich seines gelebten Lebens bewusst wird und es nachträglich als einen Zusammenhang darstellen kann.
Inhaltlich spricht sich in der erinnernden Vorstellung des Lebens die Erfahrung des Menschen aus. Das, was der Mensch durchgestanden hat, was hinter ihm liegt, ist Gegenstand der Erfahrung, also immer etwas Vergangenes.
Erfahrung ist ein Persönlichkeitskapital, an dem der Mensch gereift ist, das er sich anverwandelt hat, das in sein Fähigkeitenprofil Einzug genommen hat. Derjenige, der andere Einblick nehmen lässt in den eigenen Erfahrungsschatz, lässt gleichzeitig ahnen, welche Fähigkeiten ihm zur Verfügung stehen.
Alle genannten Bereiche, die mit der Erinnerung an das gelebte Leben verbundene Vorstellung, die Darlegung eigener Erfahrungen, die Darstellung eigener Fähigkeiten, hängen mit der „sicheren Seite“ des Lebens zusammen. In der erinnernden Vorstellung kann eine ganz exakte Linie gezeichnet werden. Wenn der Mensch sich und seinen Lebensgang vorstellt, kann er absolut genau sein. Es ist eben nicht offen, ob dieser Mensch zum Beispiel am 3.11.1957 in Paris oder London gewesen ist. Da es gelebte Geschichte ist, lässt sich das Lebensband genau zeichnen, wenn man den Dingen genügend auf den Grund geht. Ebenso sind Erfahrungen und Fähigkeiten quasi Besitz und Eigentum, auf die der Mensch zurückgreifen kann, wenn er das will. Der Mensch, der der anstehenden Aufgabe entsprechende Fähigkeiten besitzt, fühlt sich sicher, hat keine Angst vor den Anforderungen des augenblicklichen Lebens.
Auf der anderen Seite nimmt der Mensch durch sein Erfahrungswesen, durch das, was er durchgemacht hat auf allen Ebenen, Kontur an. Jemand, der mir seinen Lebensgang ausführlich geschildert hat, erzeugt in mir ein Bild seines Wesens. Ich habe das Gefühl zu wissen, „wo ich dran bin“, wenn ich diesen Einblick gewonnen habe. Der andere erhält dadurch Berechenbarkeit von mir zugesprochen.
Auf der Suche nach dem Ich sind wir so bei dem Wesen in und von dem Menschen angekommen, das von der Geburt bis zum gegenwärtigen Moment anwesend ist und im kausalen Sinne seinen Werdegang als individuellen Menschen verstehen lässt. Die jeweilig aktuelle Situation seines Daseins erklärt sich kausal aus dem Vorhergehenden. Die Vergangenheit ist der Grund der Gegenwart und auch der Zukunft des Menschen. Ich bin deswegen so, wie ich bin, weil ich bestimmte Erfahrungen habe sammeln können. Darin unterscheide ich mich von allen anderen Menschen, die eben andere Erfahrungen gesammelt haben. Unter dieser Perspektive ist die Einmaligkeit des Menschen darin begründet, dass er ein anderes Erfahrungswesen als jeder andere Mensch dieser Welt besitzt. Die Individualität des Menschen, sein Ich, ist die Summe seiner Erfahrungen.
Noch vor wenigen Jahrzehnten hätten wir nun aufhören können, weiter nach dem Wesen des Ich zu suchen. Alles Wesentliche ist gesagt.
Die spannende offene Seite unseres Lebens
Die Ursache liegt in der Zukunft.
Joseph Beuys
Jede moderne Seele erlebt eine zweite Seite des eigenen Ich. Ein Beispiel möge dies verdeutlichen. Ich spreche mit einer Erzieherin in einem Kindergarten, die mir empfohlen worden ist für die Mitarbeit in einem gemeinsamen Seminarprojekt. Die Kollegin referiert nun, dass es wohl stimme, dass sie in ihrem Kindergarten sehr geschätzt ist. Dass neue Eltern, wenn sie mit ihren Kindern auf den Kindergarten zukommen, auf jeden Fall ihr Kind in ihrer Gruppe wissen wollen und nicht in einer anderen Gruppe des Kindergartens. Auch sei es richtig, dass ihre Kolleginnen im Kindergarten sie stets um Rat fragen, wenn sie Probleme haben, gleichsam die Eltern der Kinder im Hause. Auch habe sie keine wirklichen Probleme mit den heutigen Kindern. Man sage zwar, die heutigen Kinder seien schwierig, was sie im Vergleich zu früher auch bemerke; aber, wenn die Kinder zwei, drei Wochen in ihrer Gruppe seien, dann genüge ein freundliches Wort oder ein intensiverer Blick, und die Kinder fügten sich in das Gruppengeschehen ein. Kurzum: Diese Kollegin hat ihr berufliches Geschehen und ihr Arbeitsfeld voll unter Kontrolle und steht in einem freundlichen Verhältnis zu allen Kindern und Erwachsenen. Des Weiteren ist sie sehr geschätzt.
Man könnte meinen, dass sie eigentlich eine „runde“ und erfüllte berufliche Positionierung repräsentiere; aber dann kommt in dem Gespräch die eigentlich bedeutsame Aussage. Alles dies, warum sie so von Eltern und Kollegen geschätzt sei, wolle sie eigentlich nicht. Sie wolle keinem Kind sagen, was es tun oder lassen soll; sie wolle keinem Erwachsenen – weder Kollegin, noch Elternteil – in irgendeiner Weise sagen, wie sie am besten in dieser oder jener Situation zu verfahren haben, ihr tiefstes Anliegen sei, alle Menschen völlig frei zu lassen.
Die Kollegin beschreibt etwas, womit sie bislang keine Erfahrung machen konnte. Ihre Erfahrung ist gerade entgegengesetzt, nämlich die, dass sie ihre Aufgaben dadurch so erfolgreich meistert, dass sie Kindern, Kolleginnen und Eltern sagt, was sie zu tun und lassen haben, und dies auch gern gehört wird. Jetzt aber lebt in der Seele etwas auf, wovon die Kollegin keine Ahnung hat, was sie letztlich nicht kennt, von dem sie aber absolut gewiss ist, dass es da ist und für sie entscheidend da ist.
Wenn wir für das, was als Qualität an diesem Beispiel beschrieben ist, einen passenden Begriff suchen, ist vielleicht der treffendste: Sehnsucht. Unsere Sehnsucht steht in der Seele unserer Erfahrung genau gegenüber. Im Sinne der berühmten Rede des amerikanischen Bürgerrechtlers Martin Luther King am 28.08.1963 in Washington, die mit den legendären Worten „I have a dream“ begann, hat die Sehnsucht die Qualität unseres inneren Traumes.
Jede moderne Seele kennt dieses Erlebnis, dass in der Seele neben der Erfahrung aus genau entgegengesetzter Richtung die innere Sehnsucht spricht. Im Gegensatz zur Erfahrung, die sich definitiv und konturiert artikuliert, ist die Sehnsucht präsent, ohne dass sie definierbar ist. Ihr Erscheinungsort ist das allgemeine Lebensgefühl. Auch ohne sie letztlich wirklich konkretisieren zu können, kennt jeder Mensch die Sprache dieser seiner Sehnsucht und weiß um die Bedeutung dieser Seite seines Innenwesens. Ebenso weiß jeder, inwieweit er den „Ruf“ seiner Sehnsucht zugelassen hat und ihm womöglich aktives Gehör geschenkt hat.
Die Erfahrung des Menschen rührt aus seiner Vergangenheit. Sie schiebt gewissermaßen den Menschen von hinten an. Die in der Vergangenheit gemachte Erfahrung bestimmt das Handeln in der Gegenwart. So ist die Ursache seines heutigen Handelns in der Vergangenheit des Menschen zu suchen. Die Sehnsucht ist wie ein sinnlich noch nicht präsenter geistiger Kern, der aus der Zukunft ruft, um in der Gegenwart ein Stück sinnliche Wirklichkeit zu werden.
Der Mensch, der seinen Erfahrungsbereich verlässt und sich seiner Sehnsucht hingibt, verlässt den Bereich seiner Fähigkeiten. Die Sphäre der Unfähigkeit beginnt, und damit wird der Mensch interessant. Solange der Mensch seine Fähigkeiten lebt, ist er „langweilig“, da er sich wiederholt. Die Fähigkeiten hat er in der Vergangenheit erworben; wenn er sie nun erneut anwendet, kopiert er sich gewissermaßen. Wirklich neu wird der Mensch, wenn er ohne Fähigkeiten unmittelbar seinem Leben und dessen Forderungen gegenübertritt. Dann wird er auch in neuer Weise interessant – für andere und sich selbst.
Außerdem verzichtet der Mensch, der seiner Sehnsucht Raum gibt, auf seine gewohnte Sicherheit. Man stelle sich die oben genannte Kindergartenerzieherin vor, die nun ihrer inneren Sehnsucht folgend darauf verzichtet, dem Kind zu sagen, was es tun darf und was nicht. So zum Beispiel beim Frühstück: Ein Kind verschwindet unter dem Tisch und kommt nicht wieder hervor. Der Kollegin wäre es ein leichtes, dem Kind freundlich unter dem Tisch zuzurufen, es möge doch bitte wieder „nach oben“ kommen und am Essen teilnehmen. Gerade das ist ja ihre große Fähigkeit, dass ein kurzes Wort genügt, um die Kinder sicher zu führen. Nun aber verzichtet sie darauf. Was passiert? Ärgert das Kind andere Kinder, indem es in deren Waden kneift? Werden andere Kinder das Kind unter dem Tisch treten? Rutschen noch mehr Kinder unter den Tisch und entziehen sich so dem gemeinsamen Frühstück? Das sonst in seinem Ablauf so sicher geführte Leben wird plötzlich zum Risiko. Der Verlauf ist völlig offen.
Für ihre Kolleginnen oder die Eltern des Kindergartens wird die Erzieherin, die ihre Sehnsucht lebt, ein Rätsel. War sie vorher doch so klar berechenbar. Alle glaubten, genau zu wissen, wen sie in ihr vor sich haben, nun aber ist jegliche Gewissheit, sie eingeordnet zu wissen, verschwunden. Wenn der Mensch anfängt, wirklich seiner Sehnsucht Raum zu geben, verliert er jede Berechenbarkeit, selbst denjenigen gegenüber, zu denen die engsten Bindungen bestehen, beispielsweise Ehe- oder Lebenspartnern gegenüber.
Ein beeindruckendes Beispiel eines von der Sehnsucht gestalteten Lebens ist das des ehemaligen tschechischen Präsidenten Vaclav Havel. Havel zeigte immer wieder neu, dass das, was ihn aus der Zukunft zog, was der geistige Keim seines Handelns war, die Sehnsucht nach Wahrheit und Wahrhaftigkeit war. Das, was ihm als unwahrhaftig erschien, benannte er als solches, auch in einem kommunistischen Regime, das eine solche Haltung nicht zulassen konnte. Selbstverständlich nahm Havel in Kauf, für seine aufrichtige Haltung bestraft zu werden und sich im Gefängnis wiederzufinden – alles andere als ein glücklicher Umstand in der kommunistischen Gesellschaft. Havel war ein großer Denker und Philosoph, der seine Gedanken zur Wahrheit hervorragend formulieren und niederlegen konnte. Das aber, das ihn viel größer als diese Fähigkeit der philosophischen Vorstellungsbildung sein lässt, ist die Tatsache, wie er seiner Sehnsucht Raum gegeben hat. Er hat in den Momenten, in denen es darauf ankam, ohne jegliches Taktieren und strategisches Abwägen zur Wahrheit zu stehen, diese seine Sehnsucht gelebt. Nicht die Frage, was ihm persönlich denn passieren könne, wenn er nun die Wahrheit ausspricht, welche die ihn befragenden Staatsdiener entlarvt und bloßstellt ausspricht, hat sein Handeln geprägt, sondern der unbedingte Wille, für diese Sehnsucht selbstverständlicher Garant zu sein.
An diesem Beispiel wird deutlich, wo die Sehnsucht ihren Erscheinungsort innerhalb der Seele hat; nämlich nicht in der Spiegelung des Lebens in der Vorstellung, sondern im unmittelbaren Handlungsansatz, im Willen.
Diese Seite des Ich ist stets in statu nascendi, das heißt, sie ist erst da, wenn der Mensch in die unmittelbare Handlung eintritt. Sie ist kein in der Vergangenheit geplantes Vorgehen, sondern eine im Moment geborene und die Geistesgegenwart der Situation ergreifende Handlung. Die Qualität dieser Sphäre drückt genial einfach Erich Kästner in einer zu einem Bonmot geronnenen Zitat aus: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“
War in der Betrachtung des Ich, das seine Wurzeln in der Vergangenheit hat, das Leben somit ein in der Vergangenheit begründetes Phänomen, so findet der Mensch, der seinen Handlungsansatz in der Sehnsucht hat, die Ursache seiner Lebensperspektive in der Zukunft. Das Leben begründet sich vom Ende her, es ist ein viel mehr final gegründetes.