Liebe Leserinnen und Leser,
Die Anlässe für Jubiläen innerhalb der anthroposophischen und waldorfpädagogischen Bewegung sind vielfältig und zahlreich. Unsere Mitgliedseinrichtungen blicken zum Teil auf ein jahrzehntelanges Bestehen zurück. Wir feierten 100 Jahre Waldorfschule, 100 Jahre Landwirtschaftlichen- und Heilpädagogischen Kurs, um nur einige der Jubiläen zu nennen. Wir freuen uns auf das Jubiläum zu „100 Jahre Waldorfkindergarten“ im Jahr 2026 und blicken voraus auf Veranstaltungen zum 100sten Todestag von Rudolf Steiner im März 2025.
In Stuttgart planen anthroposophische Verbände unter Federführung der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland ein mehrtägiges Ereignis in der Innenstadt. Näheres dazu finden Sie in dem Gespräch von Sebastian Knust mit Matthias Niedermann unter dem Motto: STEINER 2025. Unsere Vertreterversammlung vom 28. bis 30. März 2025 wird in der Umgebung von Stuttgart geplant und wir werden teilweise an der obigen Veranstaltung teilnehmen und diese auch mitgestalten. Vielleicht kann dieses Ereignis auch ein „Probelauf“ für 100 Jahre Waldorfkindergarten im Folgejahr sein.
Außerdem sind in diesem Zeitraum bereits verschiedene Veranstaltungen geplant, und alle Einrichtungen sind eingeladen, auch vor Ort an Tagen der offenen Tür eine Lesung oder einen Vortrag zu veranstalten. Unterstützend bei der Organisation und durch Material für die Veranstaltungen ist eine Gruppe ehemaliger Waldorfschüler:innen tätig.
Zudem in diesem Newsletter: Peter Michael Fuchs, Autor des Buches „Hengstenberg Spiel- und Bewegungspädagogik“, beantwortet Fragen zur Pikler- und Hengstenbergpädagogik. Es gibt zahlreiche kongeniale Gedanken, und in der Praxis ergänzen sich vielfältige pädagogische Ansätze.
Darüber hinaus finden Sie einen Bericht von unserer Bildungsreferentin Elke Rüpke zum Bildungsfestival in Schloß Hamborn, auch das eine gemeinsame Veranstaltung von mehreren Verbänden.
Ein neu erschienenes Büchlein der Piklergesellschaft Berlin mit dem Titel: „Schritt für Schritt zum Essen in Gemeinschaft“ von Amelie Suchy und Anke Zinser beschreibt sehr anschaulich und praxisnah, wie das Konzept gestaffelter Mahlzeiten in Krippe und Kindertagespflege umgesetzt werden kann. Dazu finden Sie im Folgenden eine Rezension.
Mit den besten Wünschen für erholsame Sommerferien!
Birgit Krohmer
Referentin für Öffentlichkeitsarbeit
Im Gespräch mit Michael Peter Fuchs, Autor
„Das Thema ist aktueller denn je: Welche Art von Bewegung brauchen Kinder, damit sie ihr inneres und äußeres Gleichgewicht (wieder)finden? Sowohl die Frage nach Zu- und Vertrauen in die eigenen Bewegungsabläufe als auch eine nicht-direktive, achtsame Begleitung, die von der Eigeninitiative des Kindes ausgeht, prägen die Spiel- und Bewegungspädagogik Elfriede Hengstenbergs. In seinem Grundlagenwerk „Hengstenberg Spiel- und Bewegungspädagogik“ erläutert Michael Peter Fuchs die didaktisch-methodischen Grundzüge der Hengstenberg-Arbeit aus der Praxis für die Praxis.“ Birgit Krohmer hat mit ihm gesprochen.
Herr Fuchs, ich bitte Sie, sich kurz vorzustellen.
Als gebürtiger Schweizer lebe ich nun schon seit vier Jahrzehnten in Deutschland in Kontakt mit der Basisgemeinde Wulfshagenerhütten Kiel. Ich half, zusammen mit meiner Frau Marie-Lou, über zwei Jahrzehnte lang beim Aufbau dieser Basisgemeinde mit, arbeitete danach wieder als Gymnasiallehrer in Kiel und Umgebung bis zu meiner Berentung im Sommer 2021; gleichzeitig arbeitete ich immer auch als Spielpädagoge nach Hengstenberg/Pikler – im Rahmen von Spielstunden mit Kindern wie als Fortbildner für Krippen, Kitas und Schulen. Meine jahrzehntelange Erfahrung damit habe ich in meinem Buch „Hengstenberg Spiel- und Bewegungspädagogik“, das 2017 im Herder Verlag erschien, dokumentiert. Auch heute noch bin ich fortbildnerisch unterwegs, schreibe und lehre am IBAF, Rendsburg, Spiel-, Bewegungs- und Religionspädagogik für angehende Heimerzieher und Heimerzieherinnen.
Wie kamen Sie zur Hengstenberg-Arbeit?
Schon in den 1980er Jahren begannen wir in der Basisgemeinde Holzspielzeug herzustellen. Im Frühjahr 1989 bekamen wir eine Einladung zu einer Ausstellung im „Haus der Kirche“ in Westberlin. Dort entdeckte uns eine Fachberaterin, die uns mit Ute Strub, der Schülerin Elfriede Hengstenbergs, bekannt machte. Im November desselben Jahres, am Tag vor dem Mauerfall (!), kam es bei einer „Vorführung“ unseres Spielmaterials in einer Kita zur ersten Begegnung mit Ute Strub. Ute Strub, die damals am Hengstenberg-Buch „Entfaltungen – Schilderungen aus meiner Arbeit mit Kindern“ arbeitete und auf der Suche nach einem Hersteller der „Hengstenberg-Geräte“ war, besuchte Anfang 1990 die Basisgemeinde und erteilte dort den Mitgliedern eine mehrtägige Einführung in die Hengstenberg-/Pikler-Arbeit. Deren Offenheit bezüglich der Pädagogik einerseits und deren Werkstatt-Knowhow andererseits gaben wohl den Ausschlag, dass Strub der Basisgemeinde die Produktion der Hengstenberg-Geräte anvertraute. In den darauf folgenden Jahren ging es für uns zum einen um die Produktion und Entwicklung der Hengstenberg-Geräte nach heutigen Sicherheitsstandards, zum anderen um die eigene Aus-/Weiterbildung zum Hengstenberg-Spiel-/Bewegungspädagogen und zum dritten um die Weitergabe der Hengstenberg-Philosophie an die Kita-Teams im Rahmen von deutschlandweiten „Projekten“. Verbunden mit der Frage, ob die „Hengstenberg-Arbeit“ in der Kita-Welt Fuß fassen kann oder nicht. Ich empfinde es als Privileg, von Anfang dabei gewesen zu sein.
Was ist das Besondere am „Hengstenberg-Spiel“, dieser Begriff wurde von Ihnen geprägt?
Vorweg: In der Hengstenberg-Pikler-Gesellschaft e.V., deren Mitglied ich bin, kursieren verschiedene Begriffe wie z.B. „Hengstenberg-Arbeit“, „Hengstenberg-Parcours“; „Bewegungsarbeit nach Hengstenberg“ etc. Ich verwende daneben auch gerne den Begriff „Hengstenberg-Spiel“, weil wir uns ja mit „Hengstenberg“ hauptsächlich im Kita- und Krippen-Bereich aufhalten, wo das Spiel die tägliche „Arbeit des Kindes“ ist.
Nun zu der Frage, worin das Besondere des „Hengstenberg-Spiels“ bestehe. Ein paar Aspekte: Die „Hengstenberg-Materialien“ (Balancierstangen, Rutsch- und Wackelbrett, Kletter- und Balanciergerät, Mittelholmleiter, kleine und große Spielleiter, Spielhocker – genauso wie das „Bodenmaterial“: Kippelhölzer, Bau- und Balancierbrettchen, Vierkanthölzer etc. – laden die Kinder ein, ins Kriechen, Krabbeln, Klettern, Rutschen, Hangeln, Balancieren usw. zu kommen. Dadurch kommt es zu einer Ent- bzw. Nachentfaltung ihrer Bewegungsentwicklung, die, wie wir wissen, der Schlüssel für eine gesunde Persönlichkeits- sprich: Gehirnentwicklung ist. Gleichzeitig fordern die Aufgaben, die die Hengstenberg-Geräte und -Materialien darstellen, die Kinder dazu auf, ganz präsent zu sein, das heißt, in Beziehung zu sein mit dem, was sie gerade tun. Sind sie es nämlich nicht, können sie die „Aufgaben“, die vor allem ihren Raum- und Gleichgewichtssinn herausfordern, nicht wirklich lösen. Doch da der Spiel- und Aufforderungscharakter der Hengstenberg-Materialien enorm hoch ist und wir anhand einfacher „Prinzipien“ (Spiel-Regeln) darauf achten, dass wir unser Tun nicht bewerten, macht es den Kindern immer wieder Freude, sich mit den Materialien auseinanderzusetzen. Und diese steigert sich automatisch, wenn die Kinder „es geschafft“ haben, wie sie gerne sagen.
Warum lernen Kinder beim „freien Spiel“ am besten?
Für mich ist das „Hengstenberg-Spiel“ eine nötige und wichtige Facette im Rahmen des „freien Spiels mit allen Sinnen“. Doch dieses muss, wie ich schon lange beobachte – unter dem gesellschaftlichen Druck der leider in Schieflage geratenen „Bildungsdiskussion“ – immer mehr der schleichenden Verschulung unserer Kitas weichen. Dabei ist das „freie Spiel mit allen Sinnen“ der von der Natur vorgegebene beste Weg zu lernen. Warum?
Allein schon die Beschreibung der Tätigkeit „Spielen“ als Entdecken, Forschen, Explorieren, Experimentieren, den Dingen auf den Grund gehen, Erfahrungen sammeln in Interaktion mit der „Welt“, Ausprobieren, um herauszufinden, wie etwas funktioniert usw. macht deutlich, worum es geht: um den Zusammenhang von Spielen und Lernen. Spielen ist Lernen und Lernen, also Spielen, ist ein Grundmerkmal alles Lebendigen, also ganz natürlich. Wir können das im Tierreich genauso gut beobachten wie bei uns Menschen. Manche Spielforscher und -praktiker (wie Fred Donaldson, Michael Mendizza) weiten ihren Blick noch darüber hinaus, wenn sie beobachten: Die Essenz der Wissenschaft ist Spiel. Jedes Kunstwerk beginnt im Zustand des Spiels. Jede Erfindung in der Geschichte der Menschheit beginnt mit dem Spiel. Je mehr Intelligenz, desto mehr Spiel. Und umgekehrt. Zone nennen Spitzensportler den Zustand, in dem sie Höchstleistungen wie von selbst erreichen. Psychologen nennen diesen optimalen Leistungszustand Flow. Kinder nennen ihn Spiel. Spiel ist keine Spielerei, sondern der natürliche Zustand, in dem Kinder optimal lernen können.
Tatsächlich sind die Kinder von Natur aus Entdecker, Forscher, das heißt, Lernende=Spielende. Beim Spielen=Lernen sind sie mit Begeisterung dabei, bringen sich mit Leib, Seele und Geist ein, lösen die selbst gestellten Aufgaben auf ihre je individuelle Art und Weise, machen Erfahrungen von Gelingen und Scheitern, lernen aus ihren „Fehlern“, entwickeln so ihre Kreativität und Fantasie (die wichtigste Geisteskraft, die uns hilft, Probleme zu lösen) weiter, eignen sich Wissen (über sich selbst, über die Mitwelt, über die Natur der Welt) und Können (Handlungskompetenzen, Frustrationstoleranz und Risikokompetenz etc.) an. Spielende=lernende Kinder sind glückliche Kinder, weil sie ihre natürlichen Grundbedürfnisse (Entdeckerfreude, Gestaltungslust, Sicherheit und Geborgenheit) ausleben können.
Im Übrigen: Diese skizzierten Zusammenhänge werden nicht nur in der Spielpädagogik bzw. in der Psychomotorik-Arbeit wahrgenommen, sondern werden von der Neurobiologie (z.B. Gerald Hüther) bestätigt.
Was können die Erwachsenen tun, um in diesem Zusammenhang eine „günstige Umgebung“ für die Kinder zu sein?
Eine zentrale Frage, finde ich. Denn wenn wir als Eltern, aber auch als professionelle Begleitperson von Kindern, nicht achtsam sind, kann es schnell passieren, dass wir diesen natürlichen Zusammenhang von Lernen und Spielen, von Ausleben natürlicher Grundbedürfnisse und Glücklichsein durchbrechen, ohne dass uns dies vielleicht so bewusst ist. Tatsächlich aber geschieht genau dies, wenn wir Erwachsenen meinen, Kinder belehren, ihnen sagen zu müssen, wie dies oder jenes funktioniert, oder ihnen etwas beibringen wollen, was Kinder im Moment gar nicht interessiert; wenn wir etwa „schönes Spiel“ einfordern, oder wenn wir unsere Erfahrungen über Kinder stülpen und unsere Erwartungen, Wünsche, (Bildungs-)Pläne auf unsere Kinder projizieren. So werden Kinder, die von Natur aus Subjekte sind, unter der Hand zu Objekten von manipulierenden, besserwisserischen Erwachsenen. Doch das schafft kein Klima, in welchem Kinder gedeihen, sich entfalten, stark werden, Selbstbewusstsein erlangen. Ganz im Gegenteil.
Was können die Erwachsenen tun oder lassen, um „freies Spiel“ zu ermöglichen?
Ja, ziehen wir aus den oben genannten grundsätzlichen Aussagen zu unserer Rolle als Eltern oder erwachsene Begleitpersonen entsprechende positive Schlussfolgerungen:
1. Machen wir uns den Zusammenhang von Spielen und Lernen bzw. die Bedeutung des Spielens für das Lernen wieder bewusst.
2. Geben wir den Kinder ihre Kindheit zurück.
3. Respektieren wir die Natur des Kindes, die spielen will.
4. Achten wir das Kind als Persönlichkeit, als Subjekt von Anfang an, das sich selbständig entfalten und seine eigene Geschichte schreiben möchte und muss.
5. Hören wir auf, die Kinder belehren zu wollen und ihnen dauernd zu sagen, was sie tun sollen, wie sie spielen sollen und was sie wissen sollen, sondern lassen wir sie selber entdecken.
6. Achten wir auf das Recht des Kindes, spielen zu können und lassen wir sie wieder spielen.
7. Schaffen wir Spiel-Räume („vorbereitete Umgebungen“) zuhause, in Krippen und Kitas, aber ebenso auf Spielplätzen, in denen Kinder frei und ungestört spielen, wo sie ihre Entdeckerfreude ausleben und spielend – allein oder zusammen mit anderen Kindern – ihren (Bildungs-)Interessen nachgehen, mit vorhersehbaren Gefahren umgehen lernen, Erfahrungen sammeln und aus Fehlern, Missgeschicken lernen – sich weiterbilden – können. Übrigens: Beulen, Schrammen, Schürfungen etc. gehören zum freien Spiel mit allen Sinnen ebenso dazu wie eine dreckige oder zerrissene (Spiel-)Hose.
Sowohl in der Pikler- als auch in der Hengstenbergs Spiel- und Bewegungspädagogik steht die Stärkung der Persönlichkeit durch sich selbst gestellte Aufgaben im Zentrum. Gibt es Unterschiede? Ist die Piklerpädagogik für die Kleinen und „Hengstenberg“ für die etwas älteren Kinder?
Zunächst das Gemeinsame: Die Spiel- und Bewegungsansätze der beiden großen Pädagoginnen Emmi Pikler (1902–1984) und Elfriede Hengstenberg (1892–1992) ergänzen einander kongenial, weil sie miteinander zentrale Aspekte eines Menschenbildes teilen, das sich an den natürlichen Lebensprozessen orientiert: Beide haben einen ganzheitlichen Blick auf das Kind, seine Lebenswirklichkeit und seine Interessen; beide haben die Bedeutung einer selbstständigen Bewegungsentwicklung für eine gesunde Persönlichkeitsentfaltung erkannt; beide haben beobachtet, dass die Bewegungsentwicklung in der spielerischen Auseinandersetzung mit den gestellten Aufgaben – im „freien Spiel“, wie Pikler sagt – am besten gelingt. Der Unterschied beider Spiel- und Bewegungsansätze liegt vor allem im Bezug auf die Altersstruktur der Kinder, will heißen: Die Pikler-Spiel- und Bewegungsmaterialien eignen sich für Babys, Kleinstkinder, Krippenkinder; die Hengstenberg-Materialien, aufgrund ihrer Größe, für Kinder im Elementarbereich, ja bis in den Schulbereich hinein. Wobei festzustellen ist, dass Pikler-Kids mit zwei bis drei Jahren, also noch im Krippenalter, bereits ein natürliches Interesse an größeren Herausforderungen haben und die Fähigkeiten mitbringen, sich erfolgreich mit einigen der Hengstenberg-Materialien auseinanderzusetzen. Der Übergang ist also fließend.
Wie hat sich Kindheit verändert, sind die „Pikler-Hengstenberg-Ansätze“ noch aktuell?
Ja, mehr denn je. Wie wir alle wissen, hat sich Kindheit von damals und heute stark verändert – auch und gerade im Zusammenhang, über den wir hier sprechen. Gehörte für frühere Generationen die Erfahrung des freien Spiels mit allen Sinnen und das Spiel mit anderen Kindern noch „automatisch“ zur Kindheit, ist das heute, aufgrund veränderter Aufwachsbedingungen, nicht mehr der Fall. Die Folgen für Kinder von heute sind gravierend. Rückmeldungen aus drei Bereichen bestätigen dies:
1. Die Kinderärzte diagnostizieren, dass die motorischen Fähigkeiten bei vielen Kindern abgenommen und dass die Koordinationsschwierigkeiten zugenommen haben; sie beobachten Defizite bei Ausdauer und körperlicher Leistungsfähigkeit, mangelnde Beweglichkeit, Haltungsschäden, Schwierigkeiten beim Balancieren und Rückwärtslaufen vieler Kinder usw.
2. Die Unfallkassen stellen eine Zunahme an schweren Unfällen in Kitas und Schulen fest, wobei unter „schweren Unfällen“ vor allem Kopfverletzungen fungieren. Doch diese müssten gar nicht sein, wenn die Kinder fallen könnten.
3. Lehrkräfte – ich selber auch – machen die Erfahrung, dass überproportional viele Kinder einer Klasse „Verhaltensauffälligkeiten“ zeigen, und zwar aufgrund der Tatsache, dass ihnen Grundkompetenzen wie Neugierde, Intentionalität, Selbstvertrauen, Selbstwirksamkeit, Reflexion, Integration, Selbstbeherrschung, Kooperationsfähigkeit etc. fehlen oder nur teilweise vorhanden sind. Doch diese wären wichtig, befähigen erst sie doch Kinder zum Lernen und zum Leben. Ursachen für diesen Kompetenz-Mangel liegen – in Bezug auf den Kontext, um den es hier geht – in den mangelnden Spiel- und Bewegungserfahrungen unserer Kinder von heute.
Bestätigt wird dieser traurige Befund gerade jetzt wieder: In den „Kieler Nachrichten“ vom 17.06.24 ist auf der Titelseite zu lesen: „Vielen Kindern fehlt vor der Einschulung die soziale Reife. Ärzte stellen bei angehenden Erstklässlern in Schleswig-Holstein zunehmend Probleme fest.“ Im Artikel heißt es weiter: „Zur sozial-emotionalen Reife gehöre es, Konfliktlösungsstrategien zu beherrschen. Die Fähigkeit, sich an Regeln zu halten, einem Erwachsenen zuhören zu können, eigene Bedürfnisse zurückstellen..“. (..) „Vielen Kindern falle es schwer, sich zu konzentrieren. Sie zeigten motorische Unruhe und erhöhte Reizoffenheit (..), würden sich leicht ablenken lassen.“ Gründe dafür: „möglicherweise eine Spätfolge der Covid-19-Pandemie“, „im Elternhaus, im hohen Medienkonsum und in den Engpässen bei der Kita-Betreuung“, „mangelnde Bewegung, unzureichende Schulung der Sinneswahrnehmung sowie Reizüberflutung“.
Ich frage mich, was muss noch alles passieren beziehungsweise diagnostiziert werden, bis wir bereit sind, uns einzugestehen, dass wir, was die aktuell vorherrschende Art der Erziehung/Begleitung unserer Kinder betrifft, in einer Sackgasse gelandet sind, und es höchste Zeit ist, „umzukehren“, will sagen: sich darum zu kümmern, dass Kinder von heute wieder eine artgerechte Kindheit erleben können/dürfen, in der selbstverständlich das freie Spiel mit allen Sinnen, allein und mit anderen Kindern, im Vordergrund steht.
Was wäre anders, wenn das 2017 erschienene Buch: „Hengstenberg Spiel- und Bewegungspädagogik: Pädagogische Ansätze auf einen Blick“ heute geschrieben würde?
Da, wie eben dargelegt, die Pikler- und Hengstenberg-Arbeit aktueller denn je ist, lässt sich das Gleiche auch von meinem „Hengstenberg-Buch“ sagen – ein Buch aus der Praxis für die Praxis. Es liegt heute in der dritten Auflage vor, was die Tatsache seiner Aktualität unterstreicht. Schon damals hätte ich mir gewünscht mehr Raum zu haben, um noch mehr Entfaltungsbeispiele seitens der Kinder und erwachsenen Begleitpersonen aufnehmen zu können. Doch 2017, als das Buch erschien, gab der Herder Verlag die Seitenzahl vor, weil er mein „Hengstenberg-Buch“ in die Reihe „Pädagogik auf einen Blick“ aufnehmen wollte. Ich willigte ein, weil ich in diesem Angebot die Chance sah, dass die Hengstenberg Spiel- und Bewegungspädagogik auf diese Weise endlich in eine Reihe mit anderen großen pädagogischen Bewegungen und Persönlichkeiten wie z.B. Montessori, Waldorf, Reggio etc. zu stehen kam, wozu es auch höchste Zeit war.
Gleichwohl: In einem heutigen „Hengstenberg-Buch“, wenn es denn ein Verlag ermöglichte, würde ich erstens darstellen, dass es nicht den EINEN Hengstenberg-Ansatz gibt, sondern eine Vielfalt von Heran- und Vorgehensweisen – je nach Individualität der Person, die mit „Hengstenberg“ unterwegs ist. Bei mir zum Beispiel steht , weil ich mich in erster Linie an die Kita-Welt richte, das Spiel, das Spielerische der Hengstenberg-Arbeit im Vordergrund, bei anderen mehr die „Hengstenberg-Bewegungsarbeit“, die Gymnastik. Zweitens wäre anhand von eindrücklichen Beispielen von Entfaltungsprozessen von Kindern darzulegen, wie segensreich die „Hengstenberg-Arbeit“ auch im therapeutischen Bereich, in Ergotherapie, Krankengymnastik etc. wirksam ist. Und drittens würde ich die zentralen Anliegen der Pikler-/Hengstenberg-Spiel- und Bewegungspädagogik“ mit wichtigen Themen des heutigen gesellschaftlichen Diskurses verknüpfen, um die Aktualität dieses ganzheitlichen pädagogischen Ansatzes heutigen Eltern und Erzieherinnen und Erziehern bewusst zu machen. Nehmen wir zum Beispiel das heutige Bewusstwerden, dass Demokratie kein Selbstläufer ist. Nach Pikler/Hengstenberg achten wir von Anfang an das Baby, das Kleinstkind als Persönlichkeit, der wir auf Augenhöhe begegnen, als Subjekt, das wir nicht (von oben herab) belehren und damit zum Objekt machen, sondern sich – in vorbereiteter Umgebung im freien Spiel mit allen Sinnen – als Subjekt entfalten lassen. Es geht also, pädagogisch gesehen, um Persönlichkeitsentfaltung von Anfang an und nicht um das schleichende Heranzüchten von Befehlsempfängern. Genauso verhält es sich mit weiteren relevanten gesellschaftlichen Themen wie Bildung, Digitalisierung, Diversivität, „Green Deal“-Bewusstsein und Menschenrechte/Kinderrechte etc. Auch in deren Kontexten lassen sich Didaktik und Methodik der Pikler-/HengstenbergArbeit profilieren. Ich bin mir da so sicher, weil ich diese „Verknüpfungsarbeit“ in meinen Kursen schon lange praktiziere.
Wie kamen Pikler und Hengstenberg zusammen?
Einem Zufall ist es zu verdanken, dass sich Elfriede Hengstenberg (1892–1992) und Emmi Pikler (1902–1984) in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts in Budapest, wo Pikler wirkte, begegnet sind. Pikler lud Elsa Gindler (1885–1961), eine deutsche Pionierin der somatischen Körperarbeit und Gymnastiklehrerin, zu Erwachsenenkursen nach Budapest ein. Doch weil Gindler verhindert war, schickte sie an ihrer Stelle Elfriede Hengstenberg, ihre Schülerin und Freundin, zu Emmi Pikler. Mit Erfolg. Denn auch in den folgenden Jahren gab Hengstenberg Erwachsenenkurse in Budapest. Zwischen Pikler und Hengstenberg entstand eine Freundschaft und eine pädagogische Zusammenarbeit. Diese erfuhr ihre Fortsetzung in der Freundschaft und Zusammenarbeit der Nachfahren Hengstenbergs und Piklers: Ute Strub auf Seiten Hengstenbergs und Anna Tardos auf Seiten Piklers. Nur konsequent, dass der vor 20 Jahren von Strub mitbegründete Verein „Hengstenberg-Pikler-Gesellschaft e.V.“ heißt.
Zur Lektüre: Michael Peter Fuchs, Hengstenberg Spiel- und Bewegungspädagogik: Pädagogische Ansätze auf einen Blick, Herder Verlag, Freiburg, 2017
Am Freitag vor Pfingsten kamen sie von allen Seiten und auf den verschiedensten Wegen aus ganz Deutschland und darüber hinaus angereist: über 400 junge Menschen, überwiegend zwischen 18 und 30 Jahren alt, und eine große Anzahl von Mitarbeiter:innen aus verschiedensten, zuallermeist anthroposophisch fundierten Bildungsinstitutionen und -initiativen, die nun vier erlebnis- und begegnungsreiche Tage miteinander verbringen würden. Die Rudolf-Steiner-Werkgemeinschaft Schloss Hamborn, in der Mitte Deutschlands nahe Paderborn idyllisch in einer bezaubernden Landschaft von bewaldeten Hügeln, Bächen und Feldern gelegen, hieß uns mit großer Gastfreundschaft willkommen und bildete einen wunderbaren Rahmen für dieses Festival der Begegnung – der Begegnung miteinander und auch mit den vielen Möglichkeiten sinnstiftender Zukunftsperspektiven und Berufsausbildungen.
Die Ausgangsidee dieses Treffens war es, in einer Zeit voller Krisen aller Art und vielfach auch bedrückender Zukunftsvisionen für junge Menschen einen Rahmen und Anregungen für Mutmachendes zu schaffen. Vorangegangen waren in den vergangenen zwei Jahren mehrere größere Veranstaltungen, maßgeblich initiiert von Mitarbeitenden der Anthroposophischen Gesellschaft Deutschland, zu denen bundesweit Kolleg:innen und Auszubildende aus den zahlreichen anthroposophisch impulsierten Ausbildungsstätten für verschiedenste Berufswege (Medizin, Therapie und Pflege, Wirtschaft, Theologie, Pädagogik und Heilpädagogik, Landwirtschaft, Eurythmie, Schauspiel und Sprachgestaltung) sowie Berufsorientierungs-Seminare eingeladen wurden und erstmalig in so großem Rahmen in den Austausch miteinander kamen.
Was passierte nun auf der Festwiese in Schloss Hamborn in und um das große rote Zirkuszelt herum? Ein gut ausgewogener Rhythmus durchzog die vier Tage mit vielfältigen Angeboten und entspannenden Pausen: von einem gut besuchten Angebot gemeinsamer Meditation am frühen Morgen über gemeinsame künstlerische Bewegung wahlweise in Tanz, Schauspiel, Eurythmie und Gesang ging es vormittags zu mehrstündigen Praxisexkursionen und Berufsforen nach Wahl, so zum Beispiel zu einem Besuch in den Waldorfkindergarten in Schloss Hamborn. Hier führten die beiden erfahrenen Waldorferzieherinnen Sophia Kaiser und Maria Buchholz die Interessent:innen kompetent und achtsam durch ihre wunderschönen Räume und gaben vielfältige Einblicke in die pädagogische Arbeit im Waldorfkindergarten, bis hin zum direkten eigenen Erleben beim Bienenwachskneten und Puppenspiel.
Am Nachmittag gab es dann in vielen, oft schön geschmückten Pavillons einen Bildungsmarkt zu besuchen, auf dem über 40 Institutionen und Initiativen ihre Arbeit vorstellten, darunter auch die Vereinigung der Waldorfkindergärten (für alle Seminare und Fachschulen), das Waldorfkindergartenseminar Mannheim, das Rudolf-Steiner-Berufskolleg Dortmund, das Rudolf-Steiner-Institut Kassel und die Alanus-Hochschule. Bei einem parallel dazu laufenden „Open Space“ und einem „Bildungs-Jam“ konnte man im Zirkuszelt zu spezifischen Fragen in wechselnden Runden ins Gespräch kommen. Den Abschluss dieses Teils bildete die Möglichkeit, eine der exquisiten Vorstellungen des „kleinsten Circus der Welt“ mit dem Duo „Pas de deux“ aus der Schweiz besuchen zu können, mit märchenhaften Stücken, durchzogen von viel Humor, feiner Musikalität und atemberaubender Akrobatik. Das Publikum war begeistert!
Am frühen Abend folgten Podiumsveranstaltungen mit vielfältigen anregenden inhaltlichen Beiträgen kompetenter und durchaus auch namhafter Redner:innen, zum Beispiel zu Möglichkeiten einer zukunftsfähigen Wirtschafts- und Gesellschaftsform, zu gesundheitlichen Kraftquellen und zu konkreten Modellen tätigen Wirkens im Sinne positiver gesellschaftlicher Veränderungen. Diese gedanklichen Anregungen erfuhren eine gute Vertiefung durch angeleitete Reflexionen in kleinen Gruppen.
Und dann folgte das Nachtcafé: An jedem Abend mit zwei Bands verschiedener Stilrichtungen, die gut tanzbare Musik brachten und den Tag bis in die Nacht hinein in Feierlaune ausklingen ließen. In den Pausen gab es eine Feuer-Show, und in der letzten Nacht ergab sich nach den Konzerten noch stundenlanges Singen am Lagerfeuer.
Im abschließenden Festival-Plenum am letzten Tag wurde aus den Rückmeldungen der Teilnehmenden neben den vielen Stimmen der Begeisterung und des Dankes auch deutlich: Ja, dieses Festival war mutmachend!
Möglich gemacht wurde dieses Gesamtkunstwerk durch eine sehr initiative und kompetente Vorbereitungsgruppe, durch die aktive und finanzielle Unterstützung vieler Festival-Partner und Förderer sowie durch den tatkräftigen Einsatz der Bewohner:innen von Schloss Hamborn. Hoffentlich gibt es Fortsetzungen dazu!
Ein Buch von Amelie Suchy und Anke Zinser, hrsg. von der PIKLER GESELLSCHAFT BERLIN
Bereits der Titel zeigt an, dass eine Mahl-Zeit mehr als nur Nahrungsaufnahme sein kann. Und es ist ein Weg mit vielen Schritten! Sowohl was die Handhabung verschiedener Speisen als auch was das Miteinander anbelangt. Vom „Ich und Du“ zum kleinen Zweiergrüppchen zur Tischgemeinschaft.
Das neue Piklerheft fasst die Erkenntnisse aus der Arbeit Dr. Emmi Piklers – besonders im Hinblick auf das gestaffelte Anbieten von Mahlzeiten – aus mehreren Krippen und von Tagespflegepersonen systematisch sehr gut zusammen.
Das Vorwort zeigt die reiche Erfahrung Anke Zinsers mit diesem Thema und greift bereits viele mögliche Hindernisse oder Schwierigkeiten, die in uns liegen können, auf.
Die großen Kapitel: „Schritte zum selbständigen Essen“, „Die Organisation des fließenden Mittagessens“, „Herausfordernde Situationen bei den Mahlzeiten“, „Wie Krippenteams und Tagespflegepersonen sich auf den Weg machen und unterstützen können“ sind mit zahlreichen Unterkapiteln klar gegliedert. Es gibt zum Beispiel eine Unterüberschrift „Einführung zum Essbänkchen“ oder „Übergang vom Spiel zur Mahlzeit“. So lassen sich konkrete Praxisfragen rasch und umfassend beantworten.
Es wird zu jedem Thema eine Zusammenfassung der Aufgaben des Erwachsenen und der Aufgaben für das Kind zur Verfügung gestellt.
Die zahlreichen Fotogeschichten vermitteln die innere Einstellung der Erwachsenen zu den Kindern sehr anschaulich. Das wird sogar ohne Fotos, allein durch die Bildunterschriften deutlich:
57„Daniela bietet Amea ein Stück Mandarine an. Mit ihren Fingern befühlt sie die unbekannte Speise.“
58 „Sie nimmt sie und probiert sie …“
59 „Amea betrachtet das Mandarinenstück nachdenklich.“
60 „Daniela erahnt, was Amea beschäftigt. Daniela kennt Amea bereits eine ganze Weile und weiß, dass sie Fasern im Gemüse oder Kräuter in der Soße nicht gerne hat. Sie fragt Amea, ob sie das weiße Fädchen an der Mandarine abmachen soll. Freudig reicht Amea ihr das Stückchen entgegen.“
Die drei offenen Gesten, die einladende, „Kommst Du …?“, die anbietende, „Möchtest Du …?“ und die bittende, „Gibst Du mir …“ können konsequent verinnerlicht in vielen Lebenssituationen hilfreich sein. Diese Gesten signalisieren auf den Punkt gebracht die friedliche und der Individualität Raum gebende Einstellung, welche die Piklerpädagogik auszeichnet.
Ein abschließendes Lektorat einer zusätzlichen Piklerperson hätte durch minimale Änderungen die von Emmi Pikler so sehr beachtete Feinfühligkeit und Exaktheit in der Sprache steigern können. Sie betonte zum Beispiel stets, dass „etwas zu Essen anbieten“ doch etwas ganz anderes sei, als zu füttern. Eine exakte Ausdrucksweise spiegelt und prägt nicht nur die Einstellung der Erwachsenen, sondern macht auch die Partizipation in jeder Ankündigung und in jedem Dialog erlebbar.
Birgit Krohmer
Schritt für Schritt zum Essen in Gemeinschaft
Leitfaden für Mahlzeiten in Krippe und Kindertagespflege
Von Amelie Suchy und Anke Zinser
144 Seiten mit über 60 Farbfotos.
Berlin 2024, € 17,50.
Von S. Knust / M. Niedermann
Initiativen für das Steiner-Jahr 2025
Seit ca. 20 Jahren werden in der anthroposophischen Bewegung immer wieder 100-Jahr-Jubiläen gefeiert. Eines der wichtigsten begehen wir im kommenden Jahr – wenn sich Rudolf Steiners Tod zum 100. Mal jährt. Dabei ist es uns einerseits wichtig, uns mit den Impulsen und der Wirksamkeit Rudolf Steiners auseinanderzusetzen, und andererseits die 100-jährige Entwicklung der anthroposophischen Bewegung in den Blick zu nehmen, die an vielen Stellen den Nachweis der Fruchtbarkeit von Steiners Ideen und Impulsen erbrachte. Im Interview skizziert Matthias Niedermann, welche Initiativen wir bei der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland für das Festjahr entwickeln und wie sich jeder beteiligen kann.
Sebastian Knust: Das Festjahr Steiner 2025 steht vor der Tür. Was bedeutet das für unsere Arbeit bei der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland (AGiD) und um welche Haltung geht es bei der Entwicklung von Initiativen?
Matthias Niedermann: Der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk charakterisierte bereits 2011 Rudolf Steiner als den „größten mündlichen Philosophen des 20. Jahrhunderts“. Darüber hinaus hat die anhaltende Kritik an der Anthroposophie der letzten Jahre gezeigt, dass Steiners Gedanken und Ansätze auch weiterhin provozieren und für die gegenwärtige Kultur vielfach eine Zumutung darstellen.
Grundsätzlich treten das gelebte Leben sowie die Taten und Werke einer gesellschaftlich relevanten Persönlichkeit nach 100 Jahren endgültig in eine historische Dimension ein. Daraus ergeben sich immer neue Fragen und Aufgabenstellungen. Bei Steiner existiert darüber hinaus das Phänomen, dass seine Ideen und Wirksamkeit in der Vergangenheit auf eine merkwürdige Weise tabuisiert wurden. Gleichzeitig lässt sich sagen, dass Steiners Werk in den letzten 20 Jahren einem Prozess der „Entmystifizierung“ unterliegt und so teilweise auch an Bedeutung bzw. Relevanz verliert. Andererseits ist sein Werk – und davon bin ich überzeugt – relevanter denn je. Ich denke dabei an seinen wissenschaftstheoretischen Ansatz, seine Freiheitsphilosophie und das anthroposophische Menschenbild. Daraus lassen sich auch heute noch evolutionäre Perspektiven für gesellschaftliche und globale Ansätze entwickeln. Das setzt allerdings die Bereitschaft voraus, traditionell-anthroposophische Wege zu verlassen und Neuland zu betreten. Das ist – so viel möchte ich schon mal vorwegnehmen – nicht einfach.
Für uns geht es im kommenden Jahr darum, einen Fokus auf Kernfragen und -qualitäten von Steiner sowie der Anthroposophie zu legen und sie sichtbar und verständlich in der Öffentlichkeit zu vertreten. Ein weiterer Fokus liegt auf der Hinwendung zur Entwicklungsgeschichte Steiners und der Anthroposophie. Dies sollte aus unserer Sicht gewürdigt und gefeiert werden. Ein dritter wesentlicher Fokus ist die gemeinsame Intentionsbildung für die Zukunft.
SK: Steiners Tod 1925 bedeutete ja eine große Zäsur in der Entwicklung der anthroposophischen Ideen und Praxis. Sein Tod wurde zur damaligen Zeit von seinem Umfeld mit großem Bestürzen aufgenommen. Warum?
MN: Eine Zäsur ist in der Biografie Rudolf Steiners und der Entwicklung der anthroposophischen Bewegung sogar schon vor dem März 1925 wahrnehmbar. Die Anzahl an initiativen Mitarbeitern, die sich für anthroposophische Ideen und Praxisansätze einsetzten, steigerte sich kontinuierlich. Die Gründungs-, Beratungs- und Vortragstätigkeit Steiners erreichte in seinen letzten Lebensjahren ein noch heute kaum fassbares Pensum. Steiners Tod war angesichts der Arbeitsbelastung und seiner gesundheitlichen Situation eine aus heutiger Sicht nachvollziehbare Konsequenz.
Und ja, für viele seiner Mitarbeiter stellte der Tod aufgrund ihrer sehr persönlichen und für sie biografisch relevanten Beziehung zu Steiner einen existenziellen Verlust dar, der sich rückblickend als biografischer Schock-Moment bezeichnen lässt. Die letzten Ereignisse um Steiners Tod wurden von dem Personenkreis um ihn herum nur sparsam dokumentiert. Allerdings gibt es viele Zeitzeugnisse, aus denen deutlich wird, wie die jeweiligen Menschen die Todesnachricht empfangen und verarbeitet haben. Das ist für mich eine interessante Signatur, die sich im 20. Jahrhundert in gewisser Weise durch die Auseinandersetzung mit Steiners Werk zieht.
SK: Es war ja nicht ausgemacht, dass sich anthroposophische Ansätze und Praxis weiterentwickeln würden. So hatte Steiner selbst auf die Möglichkeit des „Scheiterns“ des anthroposophischen Impulses hingewiesen. Kannst Du an ein paar Beispielen skizzieren, welche Menschen und Phänomene zu der weiteren Ausgestaltung beigetragen haben?
MN: Ich habe den Eindruck, dass für die weitere Entwicklung der anthroposophischen Ideen und Praxis ab 1925 drei Faktoren relevant wurden: erstens die persönlich erlebte Beziehung zu Steiner, zweitens die sich immer mehr ausdifferenzierende inhaltliche Auseinandersetzung mit den Ideen der Anthroposophie und drittens eine umfassende Kulturarbeit, die bis heute davon motiviert ist, die jeweiligen Probleme und Herausforderungen der Zeit zu lösen. Letzteres wurde insbesondere durch die Ausbreitung der anthroposophischen Praxis in der Kunst, Bildung, Landwirtschaft und Medizin geleistet.
Darüber hinaus hat die Anthroposophie immer wieder erneuernde Impulse durch einzelne Anthroposophen und Anthroposophinnen gewonnen, die sich individuell und prominent für öffentliche Fragestellungen eingesetzt haben. Sie wurden und werden als solche, auch von der anthroposophischen Community, nicht immer wahrgenommen, haben aber wesentlich zur Wirksamkeit der Anthroposophie beigetragen. Ich denke da u. a. an Traute Lafrenz-Page (Aktivistin Weiße Rose), Renate Riemeck (Pädagogikprofessorin), Michael Ende (Kinderbuchautor), Joseph Beuys (Künstler), Gerhard Kienle (Arzt und Gründer der Universität Witten/Herdecke), Wilhelm Ernst Barkhoff (Gründer der GLS Bank) oder Götz Werner (Unternehmer und Gründer von dm-drogerie markt) und viele mehr.
SK: Wir haben von der AGiD aus für 2025 mehrere Initiativen geplant. Kannst Du einen Überblick geben?
MN: Die erste Initiative, die wir voranbringen, ist die Webseite Anthroposophie.de mit einführenden Texten und Videos, die anthroposophische Ansätze einem breiteren Publikum zugänglich machen. Dazu ist eine sehr konstruktive Zusammenarbeit mit Jens Heisterkamp von der Zeitschrift Info3 und dem Buchautor Wolfgang Müller entstanden.
Im Februar 2025 werden wir Menschen aus der anthroposophischen Bewegung zu einem zweitägigen Rudolf-Steiner-Festtag einladen, um gemeinsam auf die oben skizzierte Entwicklungssituation nach 100 Jahren zu schauen. Dabei geht es am ersten Tag um die Fragen: „Welche innere Beziehung haben die Teilnehmer zu Steiner und wie hat sich diese Beziehung entwickelt?“ Der zweite Tag steht unter der Fragestellung: „Welche Zukunftsaufgaben ergeben sich heute aus der Anthroposophie für die nächsten 100 Jahre?“
Die umfangreichste Initiative ist eine Großveranstaltung, die wir in der Stuttgarter Innenstadt ausrichten möchten. Dort sollen für die Gegenwart zentrale Fragestellungen der Anthroposophie thematisiert werden, beispielswiese: Wie gehen wir mit der polarisierten Gesellschaft um und was können Demokratie und die freie kulturelle Entfaltung des Einzelnen dazu beitragen? Dann planen wir einen Markplatz, auf dem Ideen und Ansätze der Anthroposophie in ihrer praktischen Wirksamkeit erlebt und erfahren werden können. Das Verbindende ist eine große Kulturbühne, auf der zahlreiche große und kleine Künstlerinnen und Künstler auftreten werden.
SK: Das Steiner-Jahr dient auch als Einladung für zahlreiche Initiativen und Veranstaltungen, die an verschiedenen Orten stattfinden können. Welche Möglichkeiten werden da von der AGiD zur Verfügung gestellt, an wen kann man sich für weitere Informationen wenden?
MN: Monika Elbert (Generalsekretärin AGiD), Christiane Heid (Goetheanum, Leitung) und David-Marc Hoffmann (Nachlassverwaltung) haben vor nun über einem Jahr den Runden Tisch für das Steiner-Jahr 2025 initiiert. Dort treffen sich unterschiedliche Menschen mit Initiativen für das Jahr 2025 vor allem im deutschsprachigen Raum. Geplant sind zahlreiche Veranstaltungen. Von Theateraufführungen bis hin zu philosophischen Kolloquien sind bereits viele Events im Entstehen. Wenn auch Sie eine Initiative haben und am runden Tisch teilnehmen möchten, können Sie gerne Monika Elbert eine Nachricht schicken: elbert@anthroposophische-gesellschaft.org.
Aus der Arbeit des Runden Tisches wird ein gemeinsamer Veranstaltungskalender hervorgehen, der als Website und als gedrucktes Leporello verfügbar sein wird, als Übersicht über die Initiativen. Wir stellen ein Medienpaket zur Verfügung mit Vorlagen für die Plakatgestaltung. Wer für seine Initiative inhaltliche Unterstützung benötigt, kann sich gerne per Mail an Monika Elbert wenden.
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Wie würde unsere Welt heute aussehen, wenn Rudolf Steiner nicht vor 100 Jahren Anregungen gegeben hätte, wie eine zukunftsfähige Landwirtschaft, menschliche Pädagogik und Medizin, gerechte Wirtschaft etc. aussehen können? Was würden wir dem Materialismus unserer Zeit entgegnen, wenn die Anthroposophie uns nicht von Zeit zu Zeit an die geistigen und seelischen Seiten des Menschen und der Welt erinnert? Vor fast 100 Jahren starb Rudolf Steiner – ein guter Zeitpunkt, zu reflektieren und sich der Welt zu öffnen.
Was ist die Idee?
Waldorfschulen, Waldorfkindergärten, Demeter-Höfe, anthroposophische Krankenhäuser oder heilpädagogische Einrichtungen sowie von der Anthroposophie inspirierte Unternehmen und Institutionen laden ein und öffnen ihre Türen – am letzten März-Wochenende 2025 anlässlich des 100. Todestages von Rudolf Steiner. Dabei stellen sich die Institutionen selbst vor und geben gleichzeitig Auskunft über das Leben und die Anregungen Steiners. Die Gesellschaft, die Medien und die Politik sind eingeladen, sich selbst ein Bild zu machen und ins Gespräch zu kommen. Ein Logo für den Tag, ein zur Verfügung gestellter Kurzfilm über Steiner, Plakat- & Flyervorlagen und Info-Materialien können bei der Umsetzung helfen.
Was können Sie tun?
Ob Monatsfeier, Hofbesichtigung, Pflanzaktion, Führungen oder Vorträge – jede Institution stellt ihre alltägliche Arbeit vor und informiert in eigener Sache. Gleichzeitig fällt der Blick auch auf Rudolf Steiner. Mit kleinen Einführungen, Ansprachen, Gesprächen oder Kurzvorträge von Lehrenden/Mitarbeitenden kann darauf hingewiesen werden, was jeder Einzelne von uns von Rudolf Steiner gelernt hat. So kann individuell gezeigt werden, wie Gedanken Steiners bis heute Inspiration liefern.
Ist der Fokus auf Rudolf Steiner nicht problematisch?
In den letzten Jahren erfuhr die anthroposophische Bewegung eine große mediale Aufmerksamkeit. Zu häufig bestimmten dabei Kritiker den Blick und „deckten“ auf, was als geheime Quelle dahintersteckt: Rudolf Steiner. Was uns als Inspiration dient, klang hier absurd und überholt. Deswegen wollen wir nun wieder selbst unser Ansehen mitbestimmen indem wir zeigen, was wir im Alltag tun und darüber in Austausch treten, wie unser Verhältnis zu Steiner heute tatsächlich ist.
Wer sind wir?
Wir (Börries Hornemann, Sarah Söntgerath, Lukas Kunert, Armin Steuernagel) sind ehemalige Waldorfschüler*innen, die diesen Tag kuratieren. In Absprache mit den anthroposophischen Verbänden helfen wir mit der Koordination, stellen eine Webseite und einen Kurzfilm, Social-Media-, Werbe- und Info-Materialien zur Verfügung.
Was haben Sie davon?
Durch die gemeinsame Aktion kann der Tag in großen Zeitungen und anderen Medien – bezahlt und unbezahlt – beworben werden. Dadurch können deutlich mehr Menschen erreicht werden, wovon jede Institution profitiert und neue Interessenten gewinnen kann.
Kontakt: offene-tuer@rs2025.org
Mellifera e.V.
Tagung »Bienen machen Schule" 2024
Dreitägige Präsenzveranstaltung in 21335 Lüneburg, Leuphana Universität, Universitätsallee 1
Die jährliche Fachtagung findet vom 20. – 22. September 2024 unter dem Titel Bee diverse – Facettenreiche Bienenprojekte im Fokus an der Leuphana Universität Lüneburg statt.
Unter dem Motto Bee diverse möchte Mellifera e.V. einen breiten Rahmen für vielfältige Projekte rund um Honigbienen, Wildbienen und Blühflächen geben. Ausgehend von der Biene lassen sich viele Beziehungen zu anderen Themen aufzeigen, die für eine vielfältige, blühende und insektenreiche Natur wichtig sind. Neben der pädagogischen Vermittlung von Wissen sind dabei ökologische, soziale oder ökonomische Aspekte ebenfalls von großem Interesse.