Gemeinsam essen

Wie sich unsere Esskultur verändert hat und wie wir Gemeinschaft beim Essen pflegen

Hinweis: Der Artikel ist in der Winterausgabe (04/2024) der Zeitschrift »Erziehungskunst frühe Kindheit« erschienen. Einzelne Ausgaben können Sie hier bestellen. Hefte, die älter als ein Jahr sind, stehen in unserem Archiv zum Download für Sie bereit.

Lesen wir in den berühmten Kindergeschichten von Astrid Lindgren, wie zum Beispiel Michel aus Lönneberga, Madita oder Die Kinder aus Bullerbü, so fällt schnell eines auf: Es wird viel und genau vom Essen erzählt. Da werden tagelang Lebensmittel verarbeitet, Essen vorbereitet und die Speisen detailliert beschrieben. Und dann wird gemeinsam gegessen: im Alltag, als Picknick und vor allem zu Festen. Das gemeinsame Essen wird zum Fest. Dieses gemeinsame Essen gehört in der Bullerbü-Welt zum Alltag, aber auch zur Festeskultur. Küche und Tisch sind Mittelpunkt des häuslichen Geschehens. Und die Kinder sind dabei. Sie nehmen daran teil und es prägt und gliedert ihren Alltag, rhythmisiert das Jahr.

Heutzutage hat sich vieles geändert. Die Lindgren-Welt ist längst vergangen. Immer mehr Menschen leben in Single-Haushalten und essen allein. Aber auch in Familien kann dieses Phänomen beobachtet werden. Immer öfter essen wir jeder für sich, unbewusst, nebenbei, neben einer anderen Tätigkeit – sehr oft gilt beim Essen unsere Aufmerksamkeit dem Handy. Und oft essen wir unterwegs. Die Lebensmittelindustrie reagiert darauf und entwickelt Snacks, die sich dadurch auszeichnen, dass alles mit einer Hand bedient werden kann: auspacken, essen, to go. Von der handlichen Größe der Laugenstange bis zu mundgerechten Stückchen der Lebensmittel soll das Essen nicht stören oder die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Etwa 30 Prozent der täglichen Kalorienaufnahme geschieht im sogenannten Grazing. Das englische Wort bedeutet "Grasen" oder "Weiden" und beschreibt ein Verhaltensmuster, bei dem man ständig, "zwischendurch" und nebenbei, am Essen ist. Meist wird gegessen, ohne hungrig zu sein.

Und schon bei den Kleinsten beginnt das Phänomen beziehungsweise legen wir diesen Umgang mit dem Essen an: Unterwegs ist immer etwas zu essen dabei, in mundgerechten Stückchen vorbereitet. Und in kürzesten Intervallen isst das Kind. Liegt da wirklich jeweils ein Hungergefühl vor? Bei den eigentlichen Mahlzeiten wird das Kind dann häufig abgelenkt oder bespaßt: mit einem Bilderbuch, vor allem auch mit Filmen oder dem Handy. Und immer seltener geschieht das Essen in der Familie gemeinsam. Immer öfter wird erst das Kind gefüttert und versorgt und dann wird "in Ruhe" selber gegessen.

Der französische Kulturanthropologe und Soziologe Claude Fischler sieht in der westlichen Welt einen Unterschied zwischen protestantisch geprägten Ländern und katholisch geprägten. Bei der ersten Gruppe, zu welcher er auch Deutschland zählt, lasse sich eine individualistische Auffassung von Ernährung beobachten. Der persönliche Essensplan, Vorlieben, Diäten, Lebensauffassungen stehen im Mittelpunkt und prägen sich in einer Vereinzelung aus. In stark katholisch geprägten Ländern, wie zum Beispiel Italien, Frankreich, Spanien, seien die Lebensmittelaufnahme noch stärker ein gemeinsames Erlebnis und Tun: Hier spielten Teilen, Genuss und Tradition noch eine größere Rolle. Und noch eine weitere Auswirkung wurde erforscht: Die Nationen, die am wenigsten Zeit am Tisch verbringen, haben die höchste Rate an Übergewichtigen. Denn dann stopfe man vieles gedankenlos und nebenbei in sich hinein, anstatt bewusst, teilend und gemeinsam zu festen Zeiten zu essen.

Es spricht also einiges dafür, dass der gemeinsame Esstisch wieder stärker Mittelpunkt im Zusammenleben werden sollte: Der Tisch als Zentrum, an dem sich gemeinsames Familienleben abspielt. Es geht nicht darum, die "gute alte Zeit" heraufzubeschwören, denn auch in Bezug auf gemeinsame Mahlzeiten mit Kindern gab es da unangenehme Seiten: viel Steifheit, viel Benimmlast. Sondern es geht um eine Chance für das Familienleben, um Gesundheit und Wohlbefinden, um eine Bereicherung im Zusammenleben.

Wie schön kann es sein, wenn wir gemeinsam mit dem Kind das Essen vorbereiten, zumindest im Beisein des Kindes. Im Idealfall werden frische Lebensmittel, wenn möglich sogar aus dem eigenen Garten, vom eigenen Balkon oder der Fensterbank, verarbeitet. Dadurch wird das Kind beteiligt und es kann sich mit den Lebensmitteln verbinden. Die Lebensmittel werden dann bewusster wahrgenommen und dazu auch leichter angenommen. Und beim gemeinsamen Essen kann Begegnung entstehen. Wie schön, wenn das Kind den Wert eines Tischgesprächs erleben darf, an welchem es auch beteiligt ist. Das können Ankerpunkte im Familienleben sein und eine reiche, bereichernde Zeit für alle Beteiligten werden. Wir können dabei die Gedanken- und Erlebniswelt gegenseitig wahrnehmen und verbunden sein. Und wenn wir dies so angelegt haben, besteht die Chance, dass dieses Zusammenkommen auch dann noch immer wieder trägt, wenn die Kinder größer und selbständiger werden und ihre eigenen Wege gehen. Da kann das gemeinsame Essen eine wunderbare Begegnungs- und Austauschmöglichkeit sein.

Im Waldorfkindergarten wird aus oben beschriebenen Gründen das gemeinsame Essen gepflegt: In meinem Ideal werden die Mahlzeiten gemeinsam mit den Kindern vor- und zubereitet. Entweder ist das Kind aktiv beteiligt oder das Kind erlebt die Vorbereitung in seiner Umgebung. Dann fällt es dem Kind leichter, sich beim Essen mit den Lebensmitteln zu verbinden. Aus äußeren Gründen wird inzwischen immer häufiger die Essenszubereitung nach außen verlagert und das Essen wird fertig geliefert. Dies erschwert den inneren Zugang der Kinder zu den Lebensmitteln und zu den Mahlzeiten. Vielleicht können wir jedoch das gelieferte Essen noch ergänzen? Bei der eigentlichen Mahlzeit besteht dann die Kunst darin, dass das Essen wahrgenommen wird, aber auch ein Tischgespräch mit allen entsteht. Hier bedarf es viel Bewusstsein der Erziehenden. Dann aber kann Freude entstehen: Freude über das Essen, Freude am gemeinsamen Gespräch und Gedankenaustausch. Und die gemeinsame Mahlzeit wird zu einem wesentlichen Bestandteil des Tages – nicht nur zum Ort der Nahrungsaufnahme.

An Weihnachten pflegen wir in den meisten Familien noch das gemeinsame Essen. Bringen wir aber das Essen als Fest auch wieder stärker in den Alltag und versuchen in diesem Sinne jedes gemeinsame Essen zum Fest werden zu lassen, um eine gemeinsame Esskultur zu pflegen.

 

Frank Kaliss ist Redakteur der Erziehungskunst Frühe Kindheit, Mitglied im Vorstand der Vereinigung der Waldorfkindergärten und Dozent am Waldorferzieherseminar Stuttgart.

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