
Und das Rauschen des Waldes im Kinderzimmer hören
Im März, wenn die Sonne über Mittag schon recht wärmt, es dann aber in der Dämmerung rasch kühler wird und die Scheinwerfer der Autos auf den vollen Straßen den ersehnten Feierabend verkünden, beginnt bei uns die Abendrunde. Eine Kerze scheint ihr warmes Licht, dampfend steht der Krug mit Tee auf dem gedeckten Abendbrottisch und alle, Groß und Klein, erzählen von ihren Erlebnissen vom Tag. «Zähneputzen und husch ins Bett!» Runterkommen. Ein letztes müdes Necken. Endlich unter der guten Decke zugedeckt bis unters Kinn. Der Tag wirkt noch nach. «Papa! Kannst du uns eine Geschichte erzählen? Von den drei Zwergen?» Zu sich kommen. Zuhören. Bei sich sein. Strahlende Bilder von Wald, Urkräften und fabelhaften Wesen, knisternde Blätter und weiches Moos und der erdige Geruch von Tannennadeln. Alles ist gut.
Und schon sind wir mittendrin – in der Geschichte, unseren Kindern eine Welt zu eröffnen. Doch wie beginnen mit dem freien Erzählen? Wo fängt man an? Was ist passend und auch spannend – wann fängt eigentlich der Apfelbaum an zu blühen? Und wann wird nochmal die Sommersonnenwende gefeiert?
All diese Fragen und viele mehr stellten wir uns vor einigen Jahren, als wir für uns entdeckten, welch große Kraft im Erzählen liegt. Denn beim freien Erzählen ist das Kind und die erzählende Person ganz füreinander da. Augenkontakt, Mimik, Gestik, Laute, Geräusche, Berührungen. Zwischen denen, die zuhören, und der Person, die erzählt, spinnt sich ein unsichtbares Band, eine kraftvolle Verbindung. Das Kind lässt in seinem Innern die Worte zu Bildern entstehen und stärkt so mit jeder Erzählung, jedem erzählten Geschichtsbild auch eigene Fantasiekräfte.
Das Erzählen von Geschichten hat bekannterweise eine lange Tradition – lange bevor es das geschriebene Wort gab, wurden Geschichten mündlich von Generation zu Generation, von den Alten an die Jungen weitergegeben. Erzählungen, Mythen und Legenden prägten die kulturelle Identität und halfen, Gemeinschaften zusammenzuhalten, überlieferten Erfahrungen und erzählten von den Geheimnissen des Lebens. Und auch heute gibt es sie noch, die Geschichten, die es zu erzählen gilt. Und manch einer würde wohl sagen, die Bedeutung des Erzählens von Geschichten ist heute größer denn je. Zum einen als Rückbesinnung auf eine kraftvolle menschliche Tradition und zum anderen, da sie uns lehrt, zu fühlen, von neuem miteinander in Kontakt zu treten und uns hilft, unsere Fantasiekräfte zu stärken. Und natürlich setzt es einen Gegenpol zu allem Medialen, zielt auf Verbindung untereinander, auf Präsenz und Anwesenheit aller Beteiligten während des Erzählens.
So können durch das Erzählen von Geschichten ganze Welten und Geschöpfe ins Kinderzimmer Einzug halten. Es kann Erlebtes aufgegriffen und in, für das jeweilige Kind herausfordernden Situationen, Mut, Kraft und Unterstützung gegeben werden. Und natürlich kann gemeinsam in die Natur gefühlt, mit allen Sinnen eingetaucht werden – wie der Wald sich anhört, wenn der Schnee fällt, wie es unter den Füßen knirscht und wie der ganze Wald bis in die kleinste Ecke funkelt. «Und schau, hier ist schon ein Eichhörnchen gelaufen – ob es wohl seine Nuss gefunden hat?»
Ausprobieren
Wie bei vielen, die bereits das Erzählen für sich (wieder-)entdeckt haben, gab es auch bei uns einen initialen Funken, der zum Erzählen anregte. So wollten wir es ebenfalls probieren und als sich nun unsere Tochter eines Abends in ihre weichen Kissen kuschelte, in Erwartung eine ihrer Lieblingsgeschichten vorgelesenen zu bekommen, da fasste ich, Matthias, mir ein Herz und fragte: «Du, sag - habe ich dir eigentlich schon mal von den drei Zwergen erzählt?», und fing einfach an zu erzählen. Die ersten Geschichten überlegte ich mir «on the fly». Meine Fantasie war wie ein verstaubtes Buch mit rostig knatschenden Scharnieren. Doch es entstanden die ersten kleinen Abenteuer und unsere Tochter schaute mich mit großen Augen an, ihr Mund halb geöffnet, die Ohren gespitzt, lauschte sie gebannt meinen Worten. Auch für mich war das Erzählen etwas Besonderes. Plötzlich war da etwas, das nur Frida und ich miteinander teilten. Durch das Erzählen bekamen wir die Möglichkeit, trotz trubeligen Familienalltags für eine kurze Zeit mit unserer ganzen Aufmerksamkeit miteinander zu sein.
Die Frage nach einer neuen Geschichte kam nun fast täglich und ich merkte, es müssen nicht immer große Abenteuer sein. Gerade im ersten Jahrsiebt sollten Erzählungen grundlegende Wahrnehmungen ansprechen und die Entwicklungsphase und Sinneserfahrungen aufgreifen. Dies hilft dem Kind, seine Umgebung zu verstehen und Vertrauen in die eigene Wahrnehmung zu entwickeln. Und vor allem darf die reine Beobachtung für sich stehen – ohne Belehrungen oder moralische Bewertungen. So tauchten wir gemeinsam ein in eine wunderschöne Natur und erlebten in den letzten Jahren natürlich auch das ein oder andere Abenteuer mit den drei Zwergen. Wir spürten am Abend das weiche Moos und hörten die knarzenden Bäume des Waldes im Kinderzimmer und sahen die Jahreszeiten kommen und gehen.
Zugänglich machen und Ermutigung
Und nun ist daraus ein ganz schön großes Buch entstanden. Denn es wurden schnell viele Geschichten. Anfangs schrieben wir sie als Gedankenstütze mit. Dann haben wir sie als Newsletter verschickt und herausgekommen ist eine beachtliche Anzahl an kleinen Anregungen, um Kindern Geschichten zu erzählen.
Aber – und das ist die eigentliche Kraft des Buches – will es befähigen, will Mut machen, jederzeit auch über andere Dinge Geschichten erfinden und erzählen zu können. Denn man muss nur einmal mit dem Erzählen anfangen und reinkommen und genau dabei soll das Buch begleiten. Meist braucht es dafür lediglich einen kleinen Funken und die Frage: «Kannst du uns eine Geschichte erzählen?!»
Probieren Sie es aus. Es lohnt sich – denn manchmal braucht es eben nur eine gefundene, sonderbar weich geschliffene Scherbe am Strand, um eine neue wunderbare Welt entstehen zu lassen.
Zu den Autoren: Johanna Grimme ist ausgebildete Waldorferzieherin, Matthias Grimme ist Service Designer und gemeinsam wohnen sie mit ihren drei Kindern in Berlin.