Wenn Kinder später lesen lernen

Wenn ein Kind in den ersten Schuljahren nicht lesen lernt, machen sich Eltern und Lehrer Sorgen. Die Neigung ist groß, Fachleute hinzuzuziehen. Das Kind wird untersucht, getestet, Förderung und Nachhilfe verordnet. Aber ist das wirklich nötig?

Nach wie vor gehören Schreiben und Lesen neben dem Rechnen zu den wichtigsten Kulturtechniken. Und so, wie sich die heutige Kultur gestaltet, in der die »Verschrift­lichung« aller Lebensvorgänge immer weiter zunimmt, hat das Lesen auch einen besonderen Stellenwert.

Die Fähigkeit, lesen zu lernen, ist bei den Kindern äußerst unterschiedlich. Manche können schon vor der Einschulung lesen, andere lernen es vielleicht erst mühsam in der 4. oder 5. Klasse. Das Lesenlernen erfordert eine Fülle von Sinnes- und Verstandestätigkeiten. Welch ein schwieriger und komplizierter Prozess das Lesenlernen ist, beginnt man, langsam auch in der Wissenschaft zu verstehen. Der Hirnforscher Ernst Pöppel äußerte sich dazu in einem Interview mit der Tageszeitung »Die Welt« am 30. März 2010: »Lesen ist eine der unnatürlichsten Tätigkeiten des menschlichen Gehirns. Deswegen wundert es mich nicht, dass sich Kinder und auch immer mehr Erwachsene vom Lesen abwenden. Das Gehirn hat im Laufe der Evolution keine Strukturen ent­wickelt, die optimiert für das Lesen wären … Das menschliche Gehirn wehrt sich geradezu gegen Lesen. Das anstrengungslose Lernen und Verarbeiten von Informationen wird durch Lesen eher behindert. Diese Erkenntnis der Hirn­forschung muss man kennen, wenn man Kindern mit Lese­schwierigkeiten helfen will. … Die wichtigste Voraussetzung für die Aufnahme von gelesenen Informationen ist die Konzentration. Ohne sie kann man die Bedeutung von Gelesenem nicht wirklich erfassen und verstehen. Schüler, die sich nicht ausreichend konzentrieren können, haben eben auch Schwierigkeiten beim Lesen.« Rudolf Steiner drückte das auf einem Elternabend am 13. Januar 1921 mit folgenden Worten aus: »Im Grunde genommen wird das Kind in ganz künstlicher Weise in etwas ihm Fremdes hineingeführt, wenn man es ohne weiteres das Lesen und Schreiben lehrt, das heute in dem menschlichen Verkehr üblich ist.« 

Lesenlernen aus einem künstlerischen Prozess heraus 

In der Waldorfschule erarbeiten wir zunächst das Schreiben in einem künstlerischen Prozess. Wir befassen uns mit Zeichnerischem, Malerischem, Rezitatorischem und auch Musikalischem. Man lehrt, sagte Steiner in einem Vortrag zur Didaktik am 8. September 1920 in Dornach, »das Kind … aus dem künstlerischen Erfassen der Schrift das Schreiben … und dann aus dem Schreiben das Lesen«.

Das Formenzeichnen bildet eine Grundlage für diesen Prozess. Das Kind soll lernen, auch Nuancen in Formgestaltungen zu erfassen und dann selbstständig aufzuzeichnen. Dabei schult es den Sinn, später Buchstabenformen zu erfassen und wiederzugeben zu können.

Ein anderer Schwerpunkt ist das Musikalisch-Sprachliche. Wer sein Klangempfinden schult, der wird auch die Lautklänge in den Worten besser hören lernen. Manch ein Kind kann beispielsweise nur schwer »f« und »s« vom Klang her unterscheiden. Durch Singen und Rezitation wird dies in der Klassengemeinschaft ständig geübt.

Nach dem Lernen der Buchstabenformen wird viel geschrieben und dann an dem Geschriebenen das Lesen geübt. Für Kinder, die noch kaum lesen können, erleichtert sich der Prozess dadurch, dass häufig Texte geschrieben werden, die vorher auswendig gesprochen wurden. Unbekannte, gedruckte Texte lässt man die Kinder erst später lesen. Lassen sich Lehrer und Eltern nicht beirren, dann kann ohne jegliche Anstrengung, ohne irgendeine besondere intensivere Leseübung die Mehrheit der Kinder einer Klasse am Ende des zweiten Schuljahres flüssig lesen. 

Frühes Lesenlernen schadet der Gesundheit 

Aber es gibt immer Kinder, die zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht oder nur sehr mangelhaft lesen können und sich mit dem Schreiben schwerer tun als andere. Hier beginnen dann die Sorgen. Rudolf Steiner sah weniger in dem späten Beginn des Lesens ein Problem, als in dem zu früh ge­förderten Lesenlernen. Die intellektuellen Kräfte, die man für das Lesen braucht, sollten nicht zu früh geweckt werden, wenn sie nicht schon von Natur aus vorhanden sind, denn sie schwächen die körperliche und seelische Gesundheit, die in metamorphosierter Form die Grundlage dieser Kräfte bilden. Werden sie von den Erziehern zu früh auf den Leseprozess hingelenkt, obwohl das Kind aus sich selbst heraus noch nicht soweit ist, dann müssen sie von anderswo abgezogen werden. Das heißt, ein zu frühes Lesetraining kann bei einzelnen Kindern negative gesundheitliche Folgen haben. Diese treten allerdings nicht im kindlichen Alter auf, sondern zeigen sich erst viel später im Leben: »Lernt das Kind zu früh lesen, dann führt man es zu früh in die Abstraktheit hinein. Und Sie würden unzählige spätere Sklerotiker beglücken für ihr Leben, wenn Sie ihnen nicht zu früh das Lesen beibrächten als Kinder«, stellte Steiner in einem Vortrag über das Lesen- und Schreibenlernen am 18. April 1923 in Dornach fest.

Ja, die durch einen späten Lesebeginn aufgesparten Kräfte können für den Menschen im späteren Alter sogar positive Wirkungen haben. Steiner weist wie hier in Torquay am

13. August 1924 immer wieder darauf hin, dass viele bedeutende Persönlichkeiten spät mit dem Lesen begannen und  im Schulalter Probleme mit dem Schreiben hatten: »Lesen und Schreiben, so wie wir es heute haben, ist eigent­lich erst etwas für den Menschen … im 11., 12. Lebensjahre. Und je mehr man damit begnadigt ist, kein Lesen und Schreiben vorher fertig zu können, desto besser ist es für die späteren Lebensjahre.« 

Hinter einer Normabweichung stecken oft besondere Fähigkeiten 

Ein Waldorflehrer wird sich intensiv mit einem Kind beschäftigen, das von der Norm abweicht. Er wird versuchen aufzuspüren, was das Besondere im Wesen dieses Kindes ist. Er wird dann vielleicht finden, dass es dem Kind helfen würde, sich außerhalb des  Hauptunterrichtes künstlerisch zu betätigen. Oftmals kann er feststellen, dass das Kind sich immer wieder in besonderer Art im Unterricht äußert.

Solche Unterrichtsbeiträge können leicht als falsch oder störend empfunden werden. Bei genauerem Hinsehen oder Nachdenken wird man aber manchmal feststellen, dass sich in ihnen etwas sehr Individuelles oder Originelles ausdrücken will. Man wird auch versuchen, ihnen einen Schutzraum in der Klasse und überhaupt in ihrer gesamten sozialen Umgebung zu schaffen. Manchmal muss man diesen Schutzraum nach außen hin mit Mut und Kraft für das Kind erkämpfen. Immer mehr wird man bei einer intensiven Beschäftigung mit solchen Kindern darauf kommen, dass sie sogar über außerordentliche Kräfte oder Fähigkeiten auf Gebieten verfügen, die in der heutigen Kultur noch gar nicht anerkannt sind. Sie sind vielleicht hellfühlig und

können die Gedanken und Gefühle in ihrer Umgebung erspüren. Sie haben manchmal ein intensiveres seelisches Erleben als andere Kinder, was sich in starken Phantasiekräften ausdrücken kann. Dieses zu erkennen und dem Kind in der richtigen Weise entgegenzukommen, ist die große Aufgabe für Eltern und Erzieher. 

Literatur:

Thomas Jachmann: Die Ausbildung des Gemüts im zweiten Jahrsiebt
Rudolf Steiner in der Waldorfschule, GA 298, Dornach 1980
Rudolf Steiner: Idee und Praxis der Waldorfschule, GA 297, Dornach 1998
Rudolf Steiner: Die pädagogische Praxis von Gesichtspunkte geisteswissenschaftlicher Menschenerkenntnis, GA 306, Dornach 1989
Rudolf Steiner: Die Kunst des Erziehens aus dem Erfassen der Menschenwesenheit, GA 311, Dornach 1989

Zur Übersicht aller Artikel

Diese Webseite verwendet Cookies

Zu den eingesetzten Cookies zählen essenzielle, die für den Betrieb der Webseite notwendig sind. Außerdem nutzen wir Cookies für anonyme Statistikzwecke. Diese helfen uns die Webseite und Onlinedienste zu verbessern. Weitere Informationen dazu finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.