Chancen und Herausforderungen der Mehrsprachigkeit

Mehrsprachigkeit ist kein neues Phänomen. Archäologische Evidenz vom 3. Millennium v. Chr. zeigt, dass Menschen zu dieser Zeit mehr als eine Sprache gesprochen und geschrieben haben. Zum Beispiel befindet sich im Louvre-Museum ein Glossar aus Mesopotamien mit Wortlisten in Sumerisch und Arkadisch, das Namen von Tieren, Pflanzen, Steinen und anderen Objekten in diesen zwei Sprachen listet.

Hinweis: Der Artikel ist in der Frühjahrsausgabe (01/2023) der Zeitschrift »Erziehungskunst frühe Kindheit« erschienen. Einzelne Ausgaben können Sie hier bestellen. Hefte, die älter als ein Jahr sind, stehen in unserem Archiv zum Download für Sie bereit.

Heutzutage ist Mehrsprachigkeit ein wichtiges Thema in Europa, weil der europäische Raum eine große Vielfalt von Sprachen beinhaltet: nationale Sprachen, die von einer großen oder kleinen Anzahl von Menschen gesprochen werden, wie Deutsch oder Dänisch, Minderheitssprachen, wie Friesisch, Regionalsprachen, wie Plattdeutsch, und Sprachen, die Menschen mit Migrationshintergrund aus ihrer Heimat mit sich bringen, wie Arabisch und Ukrainisch – diese nennt man Herkunftssprachen. Diese Vielfalt spiegelt sich auch in Deutschland wider und bringt viele Chancen, aber auch Herausforderungen mit sich.

Um diese Chancen und Herausforderungen besser zu verstehen, hat die Universität Konstanz das Zentrum für Mehrsprachigkeit gegründet, das Forschung zur Mehrsprachigkeit in der Familie, in der Schule und in der Gesellschaft durchführt, um neue Erkenntnisse darüber zu gewinnen, ob Mehrsprachigkeit Vorteile mit sich bringt, wie mehrsprachige im Vergleich zu einsprachigen Kindern und Erwachsenen ihre Sprachen erwerben und wie Familien, Kindergärten und Schulen mehrsprachige Kinder am besten unterstützen können.

Vorteile der Mehrsprachigkeit

Eine große Anzahl von Studien hat gezeigt, dass Mehrsprachigkeit Vorteile mit sich bringen kann. Sie kann sich positiv in Bezug auf Aufmerksamkeitskontrolle, auf Kreativität und auf Problem­lösungsfähigkeiten auswirken. Das hängt damit zusammen, dass bei mehrsprachigen Menschen alle Sprachen ständig aktiv sind. Um in einer Sprache sprechen zu können, müssen mehrsprachige Menschen alle anderen Sprachen unterdrücken und sich auf eine Sprache fokussieren. Diese Tätigkeit führt zu einer besseren Kontrolle der Aufmerksamkeit, die sich dann auf eine erhöhte Kreativität und bessere Problemlösungsfähigkeit auswirkt.

Die Forschung hat auch gezeigt, dass mehrsprachige Menschen sich bewusster als einsprachige Menschen darüber sind, wie die jeweiligen Sprachen aufgebaut sind und welche Strukturen diese haben. So fällt es ihnen auch leichter, weitere Sprachen zu lernen. Das ist darauf zurückzuführen, dass sie Strategien entwickelt haben, die ihnen helfen, weitere Sprachen zu lernen. Wenn es sich um weitere Sprachen handelt, die Ähnlichkeiten mit schon erworbenen Sprachen aufweisen, dann können diese Ähnlichkeiten beim Lernen von weiteren Sprachen helfen. Zum Beispiel: Menschen, die Italienisch als Herkunftssprache haben, fällt es leicht, Spanisch zu lernen, weil die Ähnlichkeiten zwischen Italienisch und Spanisch im Wortschatz und in der Grammatik einen positiven Transfer durch Analogie bewirken. Andere Fähigkeiten, wie zum Beispiel Lese- und Schreibfähigkeiten können von einer in die andere Sprache übertragen werden, was zu einer Alphabetisierung in allen Sprachen ermutigt.

Mehrsprachigkeit in der Familie

Eine wichtige Erkenntnis ist, dass Spracherwerb bei jedem Kind etwas anders verläuft, unabhängig davon, ob das Kind eine, zwei oder mehrere Sprachen erwirbt. Einer der wichtigsten Faktoren, die den Spracherwerb beeinflussen, ist der sprachliche Input oder das sprachliche Angebot – je mehr eine Sprache in der Familie gesprochen wird, desto besser kann sie erworben werden. Die Qualität des Inputs ist ebenfalls wichtig. Es reicht nicht, die Sprache nur zu hören, ohne in der Sprache zu kommunizieren. Zum Beispiel, stundenlang vor dem Fernseher sitzen, fördert den Spracherwerb nicht. Hingegen mit dem Kind aktiv zu kommunizieren, Bücher zu lesen und sich zu seinen Gedanken und Gefühlen zu äußern, ist für den Spracherwerb wichtig. So konnten Studien zeigen, dass die sprachlichen Fähigkeiten von zweit- und drittgeborenen Kindern sich schneller entwickeln als die der erstgeborenen Kinder.

Denn zweit- und drittgeborene Kinder haben nicht nur ihre Eltern als Kommunikationspartner, sondern auch ihre Geschwister. Mehrsprachige Kinder erreichen im Normalfall die Meilensteine im Spracherwerb im gleichen Alter wie einsprachige Kinder. Die individuelle Variation ist jedoch größer als bei einsprachigen Kindern, weil sie unterschiedlichen Input zu jeder Sprache bekommen. Je mehr Input sie in einer Sprache bekommen, desto besser ist ihre Sprachkompetenz in dieser Sprache.

Die Zeit, die sie in jeder Sprache verbringen, die Anzahl der Kommunikationspartner und der Kontext der Kommunikation ist dabei wichtig. Zum Beispiel haben Kinder, die zu Hause Italienisch und im Kindergarten Deutsch sprechen, einen besseren Wortschatz für Hausaktivitäten im Italienischen und einen besseren Wortschatz für Kindergartenaktivitäten im Deutschen. Bei zweitgeborenen Kindern ist Deutsch in der Regel dominanter als Italienisch, wenn das erstgeborene Kind in den Kindergarten oder die Schule geht, denn sie bringen die deutsche Sprache vom Kindergarten oder Schule nach Hause und dadurch steigt der Gebrauch der deutschen Sprache zu Hause. Obwohl der Wortschatz mehrsprachiger Kinder in jeder einzelnen Sprache kleiner als der Durchschnitt sein mag, ist der kombinierte Wortschatz der beiden Sprachen, was konzeptueller Wortschatz genannt wird, oft größer als der der einsprachigen Kinder.

Die meisten Kinder in Deutschland besuchen einen deutschsprachigen Kindergarten und eine deutschsprachige Schule. Deswegen ist Deutsch die einzige Sprache, die außerhalb der Familie gefördert wird. In unserer Forschung haben wir festgestellt, dass für diese Kinder Deutsch die dominante Sprache ist, weil sie auf Deutsch lesen und schreiben und ihr Lernen in der deutschen Sprache stattfindet. Die Gelegenheit, ihre Herkunftssprache zu benutzen, haben diese Kinder meistens nur zu Hause. Unter diesen Umständen entwickelt sich die Herkunftssprache nicht weiter und bleibt nur als eine mündliche Sprache für Kommunikation innerhalb der Familie. Mit zunehmendem Alter wird die Herkunftssprache schwächer und manche Kinder verweigern, sie zu benutzen, weil sie sich unsicher fühlen und sich nicht so gut wie auf Deutsch äußern können. Das ist der typische Verlauf von Kindern mit Migrationshintergrund in der zweiten Generation. Wenn diese Kinder erwachsen sind, benutzen sie in der Regel ihre Herkunftssprache noch weniger und bringen diese Sprache ihren Kindern nicht bei. Daraufhin wachsen dann Kinder der dritten Generation einsprachig auf. Die kulturelle Identität geht aber in den meisten Fällen nicht verloren. Zahlreiche Leute mit Migrationshintergrund, die in der zweiten oder dritten Generation sind, haben außer der deutschen auch eine weitere kulturelle Identität und eine Affinität zu dem Herkunftsland ihrer Eltern oder Großeltern. Leider müssen sie aber einen Fremdsprachenunterricht besuchen, um diese Sprachen zu lernen, was viel schwieriger ist, als eine Sprache zu Hause in einem natürlichen Umfeld zu lernen.

Wie können Familien ihre Herkunftssprache fördern und dadurch die sprachliche Vielfalt ihrer Kinder beibehalten? Hier sind ein paar Tipps:

  • Mit Ihrem Kind von klein an in der Herkunftssprache sprechen, ihm vorlesen oder Lieder vorsingen.
  • Mit anderen Kindern spielen lassen, die die Herkunftssprache sprechen.
  • Mit größeren Kindern Filme in der Herkunftssprache anschauen, sodass sie die Sprache von mehreren Sprechern hören und in Kontexten außerhalb der Familie.
  • Aktivitäten mit anderen Personen organisieren, die nur die Herkunftssprache sprechen.
  • Über die Kindergarten- und Schulaktivitäten in der Herkunftssprache diskutieren, so dass das Kind diesen Wortschatz in der Herkunftssprache lernt.
  • Wenn möglich, Herkunftssprachenunterricht mit dem Kind beginnen.

Gleichzeitig ist es aber wichtig, dass Kinder eine gute Sprachkompetenz der deutschen Sprache entwickeln, bevor sie in die Schule gehen, denn Lernen findet in der deutschen Sprache statt, weil die Schulsprache in den meisten Schulen Deutsch ist. Deswegen ist es für Kinder von großer Bedeutung, Gesprächspartner zu haben, die eine gute deutsche Sprachkompetenz haben, so dass sie einen Input in guter Qualität bekommen. Eltern sollen mit den Kindern die Sprache verwenden, in der sie sich am wohlsten fühlen und die sie am besten beherrschen. Es ist für Kinder ein Nachteil, wenn die Eltern zu Hause eine Sprache sprechen, die sie nicht gut beherrschen, weil das die Möglichkeit von bedeutungsvollen und komplexen Gesprächen verhindern kann. Spielgruppen, Nachbarn und der Kindergarten können eine wichtige Rolle beim Erwerb des Deutschen spielen, weil sie Kommunikationsgelegenheiten bieten können, die den Spracherwerb des Deutschen fördern.

Mehrsprachigkeit in der Schule

Obwohl eine große Anzahl von Kindern mehrsprachig ist, operieren die meisten Schulen in einem einsprachigen Modus. Die Klasse wird wie eine Insel betrachtet. Die einzige Sprache, die im Unterricht verwendet wird, ist Deutsch. Die Herkunftssprachen sind meistens von der Klasse ausgeschlossen und in Extremfällen dürfen sie sogar im Schulhof nicht benutzt werden. Lehrer und Lehrerinnen und Erzieher und Erzieherinnen wissen oft nicht, welche Sprachen die Kinder in ihrer Klasse sprechen. Anstatt als Ressourcen werden Herkunftssprachen als Hindernis betrachtet. Die einzigen Sprachen, die außer Deutsch als Ressourcen betrachtet werden, sind Sprachen wie Englisch und Französisch, die ein hohes soziales Prestige besitzen und als Fremdsprachen unterrichtet werden.

Warum aber werden Herkunftssprachen als Hindernis betrachtet? Das hängt damit zusammen, dass manchmal Kinder mit Migrationshintergrund in den ersten Grundschulklassen eine niedrigere Sprachkompetenz in der deutschen Sprache als einsprachige Kinder haben, was in der Tat Schwierigkeiten beim Schulerfolg bereiten kann. Sind aber in solchen Fällen Herkunftssprachen wirklich ein Hindernis und ist ihre Ausschließung die Lösung? Oder können Herkunftssprachen als ein Teil der Lösung benutzt werden?

Eine Bildungsmethode, die in den letzten Jahren entwickelt wurde, heißt »Translanguaging«. In dieser Methode werden alle Sprachen, die Kinder mit sich bringen, als Ressourcen benutzt, um Lernen zu fördern. Zum Beispiel: Wenn ein neues mathematisches Konzept eingeführt wird, aber manche Kinder das Konzept nicht verstehen können, weil sie eine zu niedrige Deutschkompetenz haben, werden die Herkunftssprachen der Kinder benutzt, um das Konzept zu erklären. Das bedeutet nicht, dass die Lehrer und Lehrerinnen das Konzept in der Herkunftssprache erklären, denn man kann nicht erwarten, dass diese alle Herkunftssprachen beherrschen. Das Konzept kann ein mehrsprachiges Kind erklären, das beide Sprachen gut beherrscht. Solche Kinder können als Sprachexperten in der Klasse fungieren und in einer Gruppenaktivität das Konzept in der Herkunftssprache vermitteln. Sprachexperten können in jeder Klasse identifiziert werden, einer für jede Sprache, die in der Klasse vorhanden ist. Kinder mit geringen Deutschkenntnissen können auf diese Weise Konzepte in ihrer stärkeren Sprache lernen und diese dann ins Deutsche transferieren. Durch Translanguaging werden dann beide Sprachen gefördert. Darüber hinaus nehmen Herkunftssprachen einen hohen Stellenwert ein, indem sie in der Klasse sichtbar und als Mittel zum Lernen benutzt werden.

Das kann positive emotionale Effekte für die Kinder haben, weil ein Teil ihrer Identität, das heißt, ihre Sprache, in der Klasse nicht ausge­schlossen, sondern akzeptiert wird. Wie kann man in Kindergärten und Schulen mehrsprachige Kinder fördern?

Hier ein paar Tipps:

  • Den Sprachhintergrund der Kinder ermitteln und wenn möglich ihre Sprachkompetenz feststellen.
  • Alle Sprachen neben Deutsch als Ressourcen ansehen.
  • Den Kindern zeigen, dass alle Sprachen wertvoll sind – alle Sprachen der Kinder wertschätzen.
  • Sprachexperten identifizieren, die in die Herkunftssprache übersetzen können.
  • Den Kindern die Möglichkeit bieten, ihre Herkunftssprache zu benutzen, um beide Sprachen zu fördern und Kenntnisse von der einen Sprache zu der anderen zu transferieren.

Zum Autor: Dr. Theodoros Marinis ist Professor für Mehrsprachigkeit an der Universität Konstanz und an der University of Reading/GB

Literatur:

Solveig Chilla, Annette Fox Boyer: Zweisprachigkeit/Bilingualität. Ein Ratgeber für Eltern, Idstein 2012 (auch auf Russisch und Türkisch erhältlich)

Rosemarie Tracy: Wie Kinder Sprachen lernen. Und wie wir sie dabei unterstützen können, Tübingen 2007

Online Materialien – Webseite des Zentrums für Mehrsprachigkeit in Konstanz

www.mehrsprachigkeit.uni-konstanz.de/

Leitfaden für Eltern: Zweisprachige Erziehung (mit Materialien zur Unterstützung der Sprachentwicklung von Kindern)

bilingualfamily.eu/de/materialien-fuer-eltern/

Leitfaden für Pädagoginnen und Pädagogen: Wie man mehrsprachige Kinder unterstützt:

bilingualfamily.eu/de/materialien-fuer-erzieherinnen/

Broschüren in 22 Sprachen über Mehrsprachigkeit und Sprachentwicklungsstörung:

www.multilingualmind.eu/dld-awareness-day

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