Kinder liebevoll und aufmerksam im Alltag begleiten
Von Natalie Rehm, Dez 2022
Damit sich Kinder gut entwickeln, brauchen sie eine liebevolle Beziehung zu mindestens einem Erwachsenen. Sie benötigen Zuwendung, Aufmerksamkeit, Sicherheit und vieles mehr. Wie aber lässt sich das im Alltag konkret umsetzen?
Hinweis: Der Artikel ist in der Herbstausgabe (03/2022) der Zeitschrift »Erziehungskunst frühe Kindheit« erschienen. Einzelne Ausgaben können Sie hier bestellen. Hefte, die älter als ein Jahr sind, stehen in unserem Archiv zum Download für Sie bereit.
Selbstverständlich kümmern wir uns hingebungsvoll um die Kinder, wenn sie traurig oder krank sind, sich weh getan haben oder einfach nur körperliche Nähe brauchen. Viele gehen davon aus, dass sie den emotionalen Bedürfnissen der Kinder am besten gerecht werden, wenn sie ihnen möglichst viel helfen und zusammen mit ihnen spielen. Zweifellos sind Unterstützung, Trösten und gemeinsames Spiel wichtige Elemente für eine harmonische Entwicklung der Beziehung zwischen Kindern und Erwachsenen.
Weniger bewusst ist man sich, dass insbesondere der Alltag zahlreiche Gelegenheiten bietet, sich mit ungeteilter Aufmerksamkeit Kindern zuzuwenden und feinfühlig auf ihre individuellen Bedürfnisse einzugehen, sei es beim Stillen, Füttern, Windelwechseln, An- und Ausziehen, Baden, Hände-waschen, Nase oder Zähne putzen.
Die Bedeutung der liebevollen und aufmerksamen Versorgung kleiner Kinder für den Aufbau einer sicheren Beziehung hat die ungarische Kinderärztin Emmi Pikler (1902 – 1984) besonders betont: »Der Säugling braucht sehr viel Liebe. Er muss fühlen, dass wir ihn sehr gern haben. Seien wir lieb zu ihm, lächeln wir ihm zu, reden wir mit ihm, spielen wir gelegentlich auch mit ihm. Vor allem aber: Sorgen wir für ihn! Die Liebe, die Sorgfalt muss das Kind umgeben wie ein angenehmes, gleichmäßiges, warmes Bad« (Pikler, 2021, S. 55).
Die Pädagogik Emmi Piklers
Emmi Pikler entwickelte eine bis ins kleinste Detail durchdachte Vorgehensweise im Alltag mit Babys und Kleinkindern. Was sie zunächst als Mutter an ihrem ersten Kind erprobte und während ihrer rund zehnjährigen Tätigkeit als Familienärztin in Ungarn weitergab, fand sie schließlich als Leiterin des Säuglingsheims Lóczy in Budapest ab 1946 unter überprüfbaren Bedingungen bestätigt. Eine erste Nachuntersuchung von dreißig ehemaligen Lóczy-Kindern im Jahr 1964 ergab, dass keines von ihnen das an Heimkindern häufig beobachtete Syndrom des Hospitalismus aufwies, also Symptome der Vernachlässigung und Entwicklungsstörungen. Die zweite, mit finanzieller Unterstützung der Weltgesundheitsorganisation zwischen 1968 und 1970 erfolgte Nachuntersuchung von hundert ehemaligen Heimkindern im Jugend- und jungen Erwachsenenalter belegt den positiven Effekt auf ihre Bildungsbiografie, die im Großen und Ganzen jener von Gleichaltrigen entsprach, die von Geburt an in ihren angestammten Familien aufwuchsen.
Sieht man einmal von den höchst unterschiedlichen Lebensläufen ab, profitieren alle Kinder de facto von einer bewussten, aufmerksamen und feinfühligen Begleitung im Sinne Emmi Piklers sowohl im familiären als auch im pädagogischen und medizinischen Kontext. Obwohl ein achtsamer Umgang mit Kindern zunehmend in aller Munde ist, sind die meisten Erwachsenen – und somit auch die Kinder – oft nicht so richtig bei der Sache.
Was heute mehr denn je Not tut, ist das Bewusstsein für die enorme Entwicklungskraft, die in der aufmerksamen Begegnung zwischen Kindern und Erwachsenen bei der täglichen Versorgung schlummert und darauf wartet, geweckt zu werden. Dieses Potenzial zu nutzen, liegt in der Verantwortung der Erwachsenen. Durch die Art und Weise, wie wir das tun, was wir sowieso mit kleinen Kindern zu tun haben, können wir ihre emotionalen Bedürfnisse berücksichtigen. Gelingen kann uns das durch die innere Haltung: Kinder sind von Geburt an empfindsame, reaktionsfähige, mit der Fähigkeit zur Selbstbildung begabte Wesen und – entsprechend ihrem Entwicklungsstand – bereit, zu kooperieren. Das setzt voraus, dass wir uns aufrichtig für alles interessieren, was das Kind angeht, was es tut, was es empfindet, was es selbst gerade beschäftigt. Es liegt an uns, Kinder beispielsweise von klein auf zum Mitwirken einzuladen und ihnen ausreichend Raum und Zeit dafür zu geben.
Natürlich ist die Fähigkeit der Kinder, mitzuhelfen anfangs noch gering, aber potenziell vorhanden.
Je früher sie Gelegenheit erhalten, sich aktiv in das einzubringen, was wir mit ihnen vorhaben, desto rascher und umfänglicher entwickelt sich ihre Kooperation.
Kooperation von Anfang an
Einige Anregungen der Pikler-Pädagogik für den praktischen Umgang mit Kindern mögen dazu beitragen, den privaten und beruflichen Alltag aufmerksamer, ruhiger, ja liebevoller zu gestalten. Wichtig ist, dass wir uns stets in aller Ruhe, Langsamkeit und Gelassenheit um das Kind kümmern. Wir wenden uns ihm persönlich zu und kündigen ihm jede Aktion an. Anschließend warten wir ab, ob und wie das Kind auf unsere Ankündigung reagiert. Indem wir seine Reaktion in Worte fassen, geben wir ihm eine Sprache für das, was in ihm vorgeht oder was es gerade macht. Den Gegenstand, mit dem es gleich in Kontakt kommen wird, bringen wir in sein Gesichtsfeld, etwa die Jacke, den Löffel oder die Zahnbürste, damit es nicht unangenehm davon überrascht wird. Gehen wir regelmäßig so vor – bei jeder Mahlzeit, die wir füttern, bei jeder Windel, die wir wechseln –, interessiert sich auch das Kind bald für das, was wir mit ihm tun und beteiligt sich entsprechend seinem Entwicklungsstand an unseren Aktivitäten. So lernt es allmählich, mit unseren Erwartungen zu kooperieren und wird nebenbei immer selbstständiger.
Wir bemühen uns stets um ein Miteinander und handeln nicht gegen den Widerstand des Kindes, sei er auch noch so gering – etwa in Form angespannter Muskeln. Es wird in das Geschehen eingebunden, ohne dass wir es überfordern oder gar zu etwas nötigen. Tauchen »Hindernisse« auf, halten wir umgehend inne und suchen nach einer einvernehmlichen Lösung. Beispielsweise kommt es vor, dass der Säugling seine Finger lutscht, während er gefüttert oder gewickelt wird, so dass wir unser Vorhaben nicht ohne Weiteres fortsetzen können. Wie gehen wir damit um? Folgende Szene zwischen einer Mutter, die sich die Anregungen der Pikler-Pädagogik zu Herzen genommen hat, und ihrem vier Monate alten Sohn beim Wickeln mag eine Vorstellung davon geben, wie wir in einem solchen Fall vorgehen können.
Leon liegt mit dem Rücken auf dem Wickeltisch. Er saugt an den Fingern seiner rechten Hand. Die Mutter streicht ihm sanft über den Bauch. »Guck mal, Leon, ich möchte dir zuerst diesen Ärmel ausziehen.« Liebevoll fährt sie über seinen rechten Arm und wartet einen Moment. Leon lutscht weiter an den Fingern. Jetzt streichelt die Mutter seine rechte Hand. »Tust du mal die Finger aus dem Mund?« Leon öffnet den Mund. Vorsichtig nimmt sie seine Hand aus dem Mund und zieht ihm den Ärmel aus. Währenddessen wendet Leon seinen Kopf zur linken Seite und steckt seinen linken Daumen in den Mund. »Der eine Ärmel ist ausgezogen.« Die Mutter streicht Leon über den Bauch. »Oh, da ist der Daumen im Mund.« Leon wendet seinen Kopf der Mutter zu. Er rudert mit Armen und Beinen und lacht. »Ich ziehe dir den anderen Ärmel auch aus.« Als sie den Ärmel über Leons Hand streifen will, hält sie plötzlich inne und probiert es noch einmal. »Oh, du hältst ihn fest!« Spielerisch zieht sie wiederholt an seinem Ärmel. »Du hältst ihn fest, ja. Ich nehme ihn dir ab.« Behutsam befreit sie den Ärmel aus Leons Klammergriff und zieht ihn aus.
Dieser kleine Zwischenfall während des Wickelns führt uns vor Augen, wie langsam, ruhig, behutsam und wohlüberlegt die Mutter handelt, ohne ihr Ziel aus den Augen zu verlieren. Sie spricht ihr Kind mit Namen an, sagt ihm, was sie mit ihm vorhat und berührt es, was ihm hilft, sich selbst besser wahrzunehmen und seine Aufmerksamkeit auf das zu richten, was als nächstes ansteht. Geduldig und interessiert wartet sie ab, ob ihre Botschaft bei Leon ankommt und bewahrt dennoch Kontinuität in ihrem Vorgehen.
Positive Wirkung
Die aufmerksame Zuwendung und einfühlsame Umgangsweise des Erwachsenen bei allen anfallenden Tätigkeiten mit Kindern, sei es im privaten oder beruflichen Umfeld, trägt entscheidend dazu bei, dass beide das Zusammensein als wohltuend, freudig und erfüllend erleben. Der Erwachsene erfährt, dass er gut für das Kind sorgt, da es im Großen und Ganzen zufrieden ist und meist bereitwillig mitmacht. Das Kind erlebt, dass sich der Erwachsene für es interessiert, dass es ihm wichtig ist, dass seine Bedürfnisse wahr- und ernstgenommen werden. Es kann den Verlauf des Geschehens beeinflussen und der Person, die es umsichtig versorgt, vertrauen, da sie stets vorhersehbar handelt und es in seiner Selbstwirksamkeit unterstützt, auch wenn es gelegentlich ein schelmisches Spiel initiiert. Der Erwachsene lädt es ein, sich entsprechend seiner Kompetenzen zu beteiligen. Dadurch baut das Kind ein positives Selbst- und Weltbild auf.
In der Begleitung kleiner Kinder kommt es wesentlich darauf an, das Potenzial des Alltags gut zu nutzen: die zwischenmenschliche Begegnung bei jeder Interaktion, die zu einem beiderseits erfüllenden Erlebnis werden kann. Je emotional nährender das Zusammensein mit dem Erwachsenen ist, desto positiver trägt es zu einer gesunden Entwicklung des Kindes bei. Umgekehrt ist das Kind dann eher bereit, sich wieder vom Erwachsenen zu lösen und eine Weile für sich zu sein, indem es etwa selbstständig spielt oder schläft.
Zur Autorin: Natalie Rehm ist Erziehungsbegleiterin mit dem Schwerpunkt Frühe Kindheit. Sie arbeitet mit werdenden Eltern sowie Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern und ist zudem als Berufsschullehrerin am BZZ Horgen bei Zürich tätig.
Literatur:
E. Pikler: Friedliche Babys – zufriedene Eltern. Vom achtsamen Umgang mit unseren Kindern, Freiburg 2021. | E. Pikler: Lasst mir Zeit. Die selbständige Bewegungsentwicklung des Kindes bis zum freien Gehen, München 2018 | Pikler®-Pädagogik in der Krippe, Bd. 1, hrsg. v. Pikler-Hengstenberg-Gesellschaft Österreich, Schriftenreihe Heft 2/2021, Wien 2021 | N. Rehm: Gehen – Sprechen – Denken. Wie sich Babys aus eigener Kraft entwickeln, München 2021